Viele, die sich in den 80er Jahren wie ich für eine vegetarische Ernährungsweise entschieden haben, können sich sicher noch lebhaft erinnern, wie das war. Man bekam in normalen Restaurants als Vegetarier nicht selten Hühnchen angeboten oder aber einen Teller mit zerkochtem, in Käsesahnesosse ertränktem fadem Gemüse. Auf Parties musste man sich rechtfertigen, warum man denn kein Fleisch äße und bekam gerne zu hören, dass der Mensch ohne Fleisch nie zu dem geworden wäre, was er heute ist. Gerne wurde merkwürdigerweise auch darauf hingewiesen, dass ja auch Hitler Vegetarier war (was nicht stimmt), um jeglicher Äußerung, Vegetarier könnten eventuell friedfertiger sein, schon im Vorfeld die Argumentation zu entziehen.
In den 90er Jahren begann sich das zu ändern. In restaurants gab es, wenn man Glück hatte, so etwas wie eine Auswahl unter drei, vier Gerichten, von denen durchaus welche schmackhaft sein konnten. Fleischesser beeilten sich bei der Entdeckung, einem Vegetarier gegenüber zu sitzen, mit der Beteuerung, sie würden ja nur selten Fleisch essen. Der Rechtfertigungsdruck nahm ab, zumal mancher nichtmissionarische Vegetarier die Gegenfrage stellte, warum nan den Fleisch essen würde, die meistens mit peinlichem Schweigen oder betont lustvollen Bekenntnissen beantwortet wurde.
Mittlerweile sind über sechs Millionen Menschen in Deutschland Vegetarier. Bei Parties mit gemischtem Buffet werden die oft angeboteten vegetarischen Speisen oft auch gerne von den „Fleischern“ (wie sie meine Kinder sie gerne nennen) auf den Teller geladen. Kinder vegetarisch aufwachsen zu lassen bedeutet nicht mehr, sich dem Vorwurf der Körperverletzung aussetzen zu müssen. Aber natürlich gibt es immer noch Vorurteile, Halbwissen und Gerüchte.
Zum Glück gibt es aber auch Bücher wie das vorliegende des international renommierten Ernährungswissenschaftlers Claus Leitzmann: knapp, doch mit wissenschaftlicher Grundlichkeit und Akuratesse setzt er sich mit dem Vegetarismus und seinen Varianten auseinander. Nach einer kurzen Begriffsbestimmung und Abklärung kommt er zu einer differenzierten Erörterung unterschiedlichster Beweggründe, sich für vegetarische Ernährungsformen zu entscheiden, um schliesslich nach einem kurzen Exkurs in die Geschichte des Vegetarismus und der Entwicklung menschlicher Ernährung (bei der er auch mit dem Mythos vom Hirnwachstum durch Fleischverzehr aufräumt) auf sein Hauptanliegen zu kommen: Etwa die Hälfte des Buches ist der Ernährungsphysiologischen Bewertung des Vegetarismus, der vegetarischen Ernährung bestimmter Bevökerungsgruppen und dem Einfluss vegetarischer Ernährungsvarianten auf bestimmte Krankheiten gewidmet.
Leitzmann, dessen Bücher über Vegetarismus mittlerweile mehrfach aufgelegt wurden, schreibt unaufgeregt und nüchtern. Er bietet auch langjährigen Vegetariern etliche interessante Informationen und Argumente für diese Ernährungsform. Wer noch Fleisch oder Fisch ist, kann sich in diesem Buch über die Risiken des Fleischverzehrs aufklären lassen, eigene Vorurteile überprüfen und abwägen, ob die zahlreichen ernährungsphysiologischen Vorteile einer vegetarischen Ernährungsform nicht doch überwiegen könnten. Dabei geht er auch auf unterschiedliche Varianten wie Lakto-Vegetarier, Rohköstler und Vegane Ernährung ein – mit zum Teil auch für Vegetarier überraschend positiven Erkenntnissen und Bewertungen, ohne das Risiken ausgespart werden, so es sie denn wirklich gibt.
Ein empfehlenswertes Buch für Vegetarier und alle, die sich mit fleischloser Ernährung auseinander setzen wollen.
Startseite » Bücher » Sachbuch » Biologie » Vegetarismus : Grundlagen, Vorteile, Risiken / Claus Leitzmann
Die besten Reaktionen bekommt man übrigens, wenn man auf die Frage warum man denn Vegetarier sei, antwortet: „Weil Arier darin vorkommt!“ Das erspart einem dann das mit Hitler oder auch den Vorwurf moralischer Überheblichkeit. Spätestens wenn man allerdings soweit geht und ein „Du Untermensch“ anhängt, bekommt man in die Fresse… 😉
LikeLike
Wobei der oft bemühte Hinweis auf den angeblichen Vegetarier Hitler ja wirklich blöd ist – der war weder Vegetarier noch etwa Atheist. Beides wird aber immer wieder behauptet, um die damit bezeichneten Lebenseinstellungen herabzuwürdigen oder gar zu verunglimpfen …
LikeLike
Hans-Joachim Neumann sagt über Hitler: „Er aß liebend gerne Leberknödel, er aß auch Täubchen und bayrische Würstchen… er war ein liberaler Vegetarier… “ Hans-Joachim Neumann ist Mediziner und Autor. In erster Linie ist er aber offensichtlich dämlich. Höhepunkt im Spiegel-TV-Beitrag: „Doch Hitlers Blähungen verschwinden nicht.“
http://www.spiegel.de/video/der-fleischlose-fuehrer-warum-hitler-vegetarier-war-video-1105022.html
LikeLike
Oje … zum Glück räumt Leitzmann mit solchen Vegetariermythen auf …
LikeLike
Klingt spannend!
Den Restaurant-Erfahrungen aus den 80ern (und auf dem Land läuft das heute noch teilweise so) kann ich hinzufügen: „Aber das Rührei doch mit ein bisschen Speck, oder?? Schmeckt doch sonst nicht!!“ Hach…
LikeLike
Das Buch lohnt sich auf jeden Fall auch für eingemüste Vegetarier … 😉
Schon unglaublich, dass es auf dem Land heute teilweise noch immer so ist wie in den 80ern – da hätte ich schon mehr Entwicklung erwartet. Als Stadtkind habe und hatte ich dass da wohl leichter …
Immerhin: die Frage, ob man als Vegetarier Fisch esse, höre ich öfter noch … und wie das denn mit den Kindern ginge, wenn die irgendwo essen müssten (was kein Problem ist, wenn man es VORHER sagt) …
LikeLike
Genau, Fisch wird von Vegetarierin – ob groß oder klein – doch immer wieder gern genommen ;-). Nur hier in Berlin (und offenbar auch in Hamburg), da sind wir biestig und wollen lieber Tofu-Wurst.
Vorbestellen ist eine gute Idee, auch ohne Kinder! Und eingemüste Vegetarier ist ein tolles Wort. Vorgestern lernte ich die Speck-Vegetarier kennen. Ich glaube, ich werde das mal sammeln.
LikeLike
Toller Tipp!
Allerdings schein ich dann wohl noch in den 80 zigern zu leben. HIER findet sich NICHTS vegetarisches, nur eben die Beilagen oder andere Dinge, die ich nicht mag … Ein Vegetarisches Lokal in der nächsten Stadt hat schon lange wieder zu gemacht..
Plates Land eben.. far far away…
LG, Petra
LikeLike
Oje, das ist allerdings düster und meinerseits unvermutet. In meiner (Groß)Stadt an der Elbe Auen sieht das sehr viel besser aus und ist eigentlich kein Problem mehr.
Liebe Grüsse von
Jarg
LikeLike