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Fräulein Jacobs funktioniert nicht : als ich aufhörte, gut zu sein / Louise Jacobs

Ich saß wie ein Neutrum auf einem der Hocker. Ich blickte auf die Menschen und konnte nicht glauben, dass ich auch von ihrer Sorte war. Ich könnte auch anstoßen, könnte ins Gespräch kommen, könnte glänzende Augen haben, eine rauchen und genüsslich Wein oder Bier trinken. Aber ich konnte es nicht. Ich befand mich ganz weit weg vom Ufer, ich trieb auf offener See und scheute mich, an Land zu gehen. (S. 249)

Louise Jacobs wächst in der Schweiz mit sechs Geschwistern in sehr begütertem Haus auf, zählt ihre Familie doch zur reichen Brener Kaffeerösterdynastie Jacobs. Die Eltern kümmern sich um ihre Kinder, fördern und sind großzügig. Nur Louise macht es ihnen nicht leicht, denn durch die früh diagnostizierten Lese-, Schreib- und Rechenschwächen ist schon ihr Start in die Grundschule mehr als holprig und das von den Eltern gewünschte Abitur erscheint fast illusorisch. Das Mädchen erhält jegliche erdenkliche Förderung therapeutischer, psychologischer und erzieherischer Art – kommt so kaum dazu, einfach Kind zu und wächst mit dem trurigen Gefühl auf, defizitär zu sein, zu versagen, Erwartungen nicht erfüllen zu können.

Als ich acht war, begann man, mich zu untersuchen. Und das Faszinierende war:
Je genauer man mich untersuchte, desto weniger an mir stimmte.
Ich wurde immer falscher.
(Zitat nach der Webseite zum Buch)

Nur auf der Farm der Familie in Vermont vergißt Louise ihre Traurigkeit, genießt die Natur, die Nähe von Pferden und hart arbeitenden Menschen und träumt von einem Leben als Cowboy. Doch als ihre Schulleistungen immer weiter nachlassen, überredet sie ihre Eltern dazu, für ein Jahr nach Vermont auf eine Highschool zu gehen. Der Aufenthalt verändert sie: Louise kommt mit der anderen Art des Lernen schnell klar und erreicht mit viel Engagement deutliche Leistungssteigerungen. Gleichzeitig rutscht sie aber in die Magersucht ab, wird immer dünner und schon bald nach ihrer Rückkehr nach Littenheid in Psychiatrie eingewiesen.

Ich begreife, warum man Ställe ausmisten muss, warum im Herbst die Blätter von den Bäumen fallen und warum wir den Saft des Ahorns im März beginnen zu zapfen, aber ich verstehe die Prinzipien der Gesellschaft nicht. Leistung hat in meinem Leben oft eine zu große Bedeutung eingenommen, und die Traurigkeit darüber kann ich nicht abschütteln. (S. 278)

Der vermutlich lebensrettende Aufenthalt wird für sie zum Wendepunkt. Mit 50 kg entlassen, beschliesst sie, ihr Abitur in Berlin nachzumachen und endlich eigene Wege zu gehen. Mutig kämpft sie sich dahin durch und wächst an sich selbst, statt therapeutisch behandelt zu werden.

Wie ich mich schämte, Opfer von so einer bescheuterten Schwächlingskrankheit zu sein. Wie ich mich schämte, immer die große Klappe zu haben, dass mir alle unrecht taten und getan haben, ich mich aber am wenigsten akzeptieren konnte und ich es war, die sich am meisten Schaden zufügte. Wie bescheuert es doch war, sich täglich mit ein und demselben Gedanken auseinanderzusetzen, nur um vor der Konfrontation mit dem Ernst des Lebens zu flüchten! Und zuletzt: Wie verwöhnt ich war, mich zwischen weiß getünchten Wänden, im Angesicht gut bezahlter Ärzte und im Schutze einer Institution meinen Problemen zu widmen. Hatte ich nicht immer rausgewollt aus dem goldenen Käfig? Na, Louise? Traust du dich etwa nicht? Verdammt, ich saß in einer Falle. (S. 258)

Louise Jacobs ist mit ihrer Autobiogafie ein äußerst bewegendes, intensives Buch über einen harten, steinigen Weg zu sich selbst gelungen, dass ehrlich, uneitel und ohen Verstellung eine Geschichtev erzählt, die einen so rasch nicht los lässt. Sie lässt den Leser teilhaben an der Kindheit und Jugend einer Frau, die sich nur unter größten Anstregungen den wohlwollenden Erwartungen ihrer Umwelt entziehen und aus ihren eigenen Zwängen befreien kann.
Sätze von großer Eindringlichkeit und sprachlicher Klarheit verdeutlichen ihre Not, und die Schilderungen aus der Zeit der Magersucht und Psychatrie vermitteln dazu einen tiefen Einblick in ihre Gedanken- und Gefühlsbild und darüber hinaus ein lebensnahes, authetisches Bild von Menschen, die hilflos und entfremdet am Rande einer auf Leistung und Funktionieren getrimmten Gesellschaft stehen, unfähig, sich dem eigenen Leben und der Freiheit zu stellen – und nah am Abgrund des Lebens:

Die menschliche Psyche besitzt die Kraft zur völligen Selbstzerstörung. Sie kann einen immer tiefer ziehen, bis man bis zum Hals eingesunken ist und es unmöglich wird, sich mit eigener Willenskraft aus dem psychischen Schlamassel zu ziehen. (S. 259).

Die Autorin wechselt die Perspektive und reflektiert aus der Gegenwart und häufigen Aufenthalten in Vermont zurück in die Vergangenheit. Sie stellt die hohen Erwartungen, denen sie ausgesetzt ist, damit auf einer zweiten Ebene gegen das wesentlich erdverbundenere Leben auf der Farm, die hart arbeitenden Menschen in ihrem Umfeld und die elemntaren Erfahrungen mit Natur, mit Tieren und körperlicher Arbeit. Hier scheint die Möglichkeit eines anderen Lebens auf, in dem man einfach ist, etwas sein kann, ohne zunächst etwas zu werden und sich an vorgegebenen Maßstäben messen lassen zu müssen, an zu erreichenden Zielen und konstatierten Defiziten.
Die bei vergleichbaren Bücher nicht selten zu findende und letztlich ermüdende ewige Anklage gegen Eltern, Umfeld und Umstände vermeidet die Autorin. Sie findet stattdessen schliesslich Kraft genug, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen und bei allen vorhandenen Unabwägbarkeiten zu einem selbstbestimmten Leben zu finden – denn ihr wird bewußt, dass sie nur dieses eine hat.

Ich muss an den Knochen im Kompost denken, es ist nur das, was bleibt. All die Zeit, die vergeht, sie fügt sich zu dem zusammen, was mein Leben ist. Bis ich meine Heimat gefunden habe, muss ich jeden Tag packen, walken und bearbeiten wie einen Acker. (S. 277).

Rasch wächst bei der Lektüre der Respekt des Lesers für eine Frau, die sich trotz des familiären Hintergrundes ihren eigenen Weg schwer erarbeitet hat. Jacobs gelingen Bilder von Landschaften, Menschen und Emotionen, die – sprachlich schön, intensiv und treffend zugleich – tief berühren und in Bann halten, bis das Buch ausgelesen ist.

30 Kommentare zu “Fräulein Jacobs funktioniert nicht : als ich aufhörte, gut zu sein / Louise Jacobs

  1. Pingback: Sommer im Garten/Sommerlektüre « Familienbande

    • Oh, danke für das Rebloggen. Ich hoffe, bei der Hitze ist ein kühlendes Eis in Reichweite, grüsse herzlich und ja, „Klingsors letzter Sommer“ ist eine gute Lektüreidee für diese Tage!
      Jarg

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  2. Hallo Jarg,
    das ist wirklich eine ausgesprochen gelungene Rezension (was nicht heisst, dass ich nicht sehr gerne noch viel mehr über die Welt aus (hier eher: den) Angeln von Dir lesen würde. Aber man merkt, dass Dir das Buch sehr nah gekommen ist. Was kann man voneinem Buch und einer Rezension desselben schon schöneressagen!
    Ja mei, ich werde wohl meinen Lektüreplan ändern müssen, denn das Buch muss ich lesen.
    Liebe Grüsse, Kai

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    • Hallo Kai,
      danke schön für die freundlichen Worte zur Rezension. Ich hoffe, die Änderung des Lektüreplans erweist sich für Dich als nachhaltig positiv.
      Und von Angeln gibt es sicher nochmal mehr – aber vermmutlich erst im nächsten Jahr, denn ich habe noch etwas über Schwaben und das Hanseatenumland zu verbreiten 😉
      Liebe Grüsse aus dem Norden von
      Jarg

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      • Hallo Jarg,
        da bin ich sehr zuversichtlich, ausserdem mach ich das öfters, eigentlich hab ich nicht wirklich einen festen Leseplan, ich glaube, dafür switch ich zu oft, je nach Lust und Interesse.
        Schwaben ist auch schön, habe 20 Jahre in Tübingen gelebt und schätze die Landschaft und die Schwaben sehr. Und ich bin nach wie vor sehr Maultaschen-affin… also, ich bin gespannt.
        Liebe Grüsse, Kai

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      • Hallo Kai,
        so geht es mir auch … schliesslich führt einen ja manches Buch unerwartet zu anderen, die dann unbedingt schnell gelesen werden müssen.
        Tübingen ist auch schön – war vor vielen Jahren mal da. Bei mir sind es Schwiegermutters Käspätzle, die allein schon die Reise lohnend machen.
        Liebe Grüsse von Jarg

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  3. Danke!! Ich liebe dieses Buch und freue mich sehr über die Rezension hier. Seit Wochen nehme ich mir vor, selbst eine zu schreiben, aber es fällt mir ausnahmsweise nicht leicht, denn mich verbindet so einiges mit dieser Lektüre. Es mag übertrieben klingen, aber meiner Meinung nach sollten möglichst viele Leute dieses Buch lesen. Jacobs spricht sehr wichtige Themen an, die (leider) nicht wenige Menschen betreffen, sondern große Probleme unserer Gesellschaft verdeutlichen. Mir gefällt ihre Erzählweise – nicht nur, weil ich mich beim Lesen ins schöne Vermont zurückversetzt fühle und diese Luft einzuatmen glaube. Jetzt würde ich am liebsten loslegen und … Kurz: Das Buch ist eine Bereicherung.

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    • Liebe Alexandra,
      danke für deinen Kommentar. Mir geht es ebenso wie dir, weshalb mich das Buch auch so bewegt hat – und ich denke auch, dass das Buch sowohl inhaltlich auch als sprachlich weit über sein Thema (und andere Bücher zum Thema) hinausreicht und von vielen gelesen werden sollte. Auch und gerade, weil wir alle uns im täglichen Rattenrennen, im Hamsterrad bewegen – und das Leben soo viel mehr ist als das.
      Liebe Grüsse von
      Jarg

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  4. Lieber Jarg,

    danke für diese wunderbare Rezension, die bei mir sofort den Wunsch ausgelöst hat, das Buch bald möglichst zu lesen. Im Handel war es mir schon einige Male aufgefallen, ich habe es dann aber doch nie in die Hand genommen und mal hineingeblättert – das werde ich wohl nachholen müssen und ich befürchte schon jetzt, dass es nicht beim Blättern bleiben wird.

    Danke für diese schöne Besprechung! 🙂

    Liebe Grüße
    Mara

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    • Liebe Mara,

      gern geschehen und danke für das Kompliment.

      Ich habe es im Urlaub gelesen und mochte es gar nicht mehr aus der Hand legen. sehr intensiv und berührend und weit über das Thema (Magersucht/Erwachsenwerden) hinausreichend.

      Liebe Grüsse von
      Jarg

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  5. „Ich wurde immer falscher.“ Allein dieser Satz besitzt schon ungeheure Sogkraft, sich in diese Geschichte zu lesen. Danke für den Tipp!

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    • Danke für den Link! 🙂
      Ich „zensiere“ natürlich nie – aber seit März halte ich mir so fanatische religiöse und politische Trolle vom Hals. Und kann so entspannt gewünschte Korrekturen nachvollziehen 😉
      Das mit dem Kaffee kenne ich: vor dem esten Becher weiß ich noch nicht einmal, wie ich heiße – geschweige denn, was ich auf diesem absurden Kleinplaneten soll … !!!

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  6. Nun bin ich schon zum zweiten Mal neugierig auf dieses Buch gemacht worden, aus einer ganz anderen Perspektive. Auch einen befreundeten Arzt, der täglich mit der Behandlung von Magersucht zu tun hat, machte schon darauf aufmerksam. Und fand Anlass zum Träumen von einer Gesellschaft, in der es andere Maßstäbe gibt: für die Betroffenen und die Welt in weiß.
    Ich hätte Diplom-Leserin werden sollen. Seufz.

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    • Das Buch unterscheidet sich wohltuend von den (notwenidigen) Erlebnisberichten über Magersucht, reicht es doch sowohl sprachlich als auch inhaltlich darüber hinaus. Daher kann ich gut nachvollziehen, dass der Arzt das Buch so bemerkenswert findet – und das gerade auch in einer Welt, in der sich alle irgendwie am Rattenrennen, am Hansterrad beteiligen und kaum keiner das in Frage stellt.
      Ja, was wäre das für eine Welt …? Darüber liesse sich lange träumen.

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