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Die Intelligenz der Tiere : Wie Tiere fühlen und denken / Carl Safina

„Wir suchen wie besessen nach etwas, was uns zum Menschen macht. Warum? Kratzt man ein bisschen an der Oberfläche dieser Obsession, dann wittert man etwas, das als Antwort passen könnte: unsere Unsicherheit. Was wir eigentlich wollen ist eine Geschichte, die uns von allen anderen Lebensformen abhebt. Warum? Weil wir verzweifelt nach einem Beweis suchen, dass wir nicht nur – wie alle Arten – einzigartig, sondern dass wir etwas ganz besonderes sind, prächtig, übernatürlich, strahlend, göttlich inspiriert, erfüllt von einer ewigen Seele. Alles andere löst Furcht und existentielle Ängste in und aus“. (S. 342f)

Wir Menschen haben ein Problem: aufgrund unserer Sprache neigen wir dazu, allen Lebewesen, die nicht über Sprache verfügen, tiefer gehendes Denken abzusprechen. Doch können wir wirklich verstehen, was Tiere „sagen“. Oder geht es uns vielleicht wie den Tieren, von denen manche mehrere 100 menschliche Begriffe verstehen können, aber nicht die komplexe Syntax unserer Sprache? In unserer Arroganz gerät uns aus dem Blick, dass Tiere andere Kommunikationsformen haben als wir, andere Sinnesorgane nutzen. Für Hunde ist diese Welt eine Welt der Gerüche, Orcas und Fledermäuse vertrauen auf ihre Echoortung und das Gehör, Elefanten kommunizieren über weite Distanzen mit tiefen, vom menschlichen Ohr nicht wahrnehmbaren Brummtönen. Allenfalls gestehen wir Tieren ritualisierte Formen von Kommunikation zu. Aber Gefühle wie Humor, Trauer, Eifersucht, Liebe, etwas wie Selbstbewusstsein oder gar Mitgefühl, kulturelle Überlieferung, eigene Namen?

Der bekannte Meeresbiologe Carl Safina schreibt im vorliegenden Buch vorwiegend über Elefanten, Wölfe und Orcas. Dabei berichtet er über verblüffende Entdeckungen im weiten Spektrum an Gefühlen, Persönlichkeitsstrukturen und Verhaltensweisen bei Tieren und verbindet eigene Beobachtungen mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wir begleiten ihn zu den unter schwierigen Verhältnissen überlebenden Elefanten Afrikas, die nicht nur unter Dürre und Wilderei, sondern am Verlust kultureller Traditionen leiden, da gerade ältere, erfahrene Tiere sterben. Die Wölfe des Yellowstone zeigen soziale Strukturen und Verhaltensspektren, die mehr als deutlich machen, warum einst die Vorfahren des Hundes die Nähe des ähnlich gestrickten Menschen gesucht haben. Bei den Orcas wiederum kann man aktuell nicht nur die Herausbildung von Traditionen entdecken, die eine Population von der anderen trennt und so mittelfristig zu neuen Arten führen wird.

Deutlich wird an Safinas Buch vor allem, wie ähnlich die Tiere und wir sind in unseren Verhaltensspektren. Und das ist kein Zufall, denn wir haben gemeinsame Vorfahren. Nur dass sich unsere Intelligenz auf die jeweils zu lösenden Probleme spezialisiert hat.

„Bei der Suche nach „Intelligenz“ bei anderen Spezies erliegen wir oft demselben Irrtum wie Protagoras, der glaubte, dass „der Mensch das Mass aller Dinge“ sei. Wir sind Menschen und neigen daher dazu, bei Nichtmenschen nach menschenähnlicher Intelligenz zu suchen. Sind sie so intelligent wie wir?. Nein, und genau deswegen – gewinnen wir!.Sind wir so intelligent wie sie? Das ist uns egal. Wir beharren auf unseren Spielregeln; wir weigern uns, ihnen zu folgen.“ (S. 344).

Verblüffend aber sind nicht nur seine Belege für die überaus grosse Nähe zwischen und, einem Wesen, das sein Bewusstsein über Sprache zu vermitteln versucht, und vielen Tieren, die ganz offensichtlich über nichtsprachliches Bewusstsein verfügen. Dabei hinterfragt er auch kritisch die gängigen, aus der Sicht des Menschen entwickelten Versuche, um das Vorhandensein von Bewusstsein oder die Intelligenz zu messen und auch in Teilen das Konzept der Spiegelneuronen als vergleichendes Maß. Unser notgedrungen anthropozentrischer Blick kann hier leicht zu Verfälschungen führen. Erlebt man aber die Tiere unmittelbar, zeigen sie zum Teil unglaubliche Fähigkeiten, auf uns einzugehen. So erlebte es der Meeresbiologe Michael Parfit mit einem Orca namens Luna, der nach vielen harmonischen Begegnungen etwas zu heftig mit dem Außenbord-Notmotor spielte und auf verbale Ansprache, er möge den Motor in Ruhe lassen, sofort reagierte und so die scheinbare Barriere Sprache überwand, da er unmittelbar Emotion und Zusammenhang erfasste.

„Menschliches Bewußtsein existiert ohne Worte; Worte sind ein Versuch, unser Bewußtsein einzufangen. Nonverbale Tiere erleben reines Bewußtsein. Parfit realisierte irgendwann, dass er endlich hinter die Andersartigkeit geblickt hatte. Er sah nicht mehr etwas, das nicht menschlich aussah. Er sah keinen Killerwal mehr. Er sah Luna. (S. 436)“

Faszinierend ist daher auch das letzte Kapitel über die Orcas, einem Tier, von dem uns evolutionsbiologisch noch mehr trennt als von Wolf und Elefant. Auch hier verweist der Autor immer wieder darauf, wie bedroht die Tiere sind. Verblüffend aber auch für ihn ist, dass sie in ihrer Neugier unsere Nähe suchen, mit uns zu kommunizieren trachten, obwohl sie über Jahrzehnte erbittert bekämpft wurden und heute durch Ölindustrie und Militär erheblichem Stress ausgesetzt sind. Das gilt im übrigen nicht nur für Orcas, über die Safina erstaunliche Dinge zu berichten weiss. Als Skeptiker beschäftigen ihn mittlerweile gut belegte Erlebnisse und Erfahrungsberichte, die an Walen und Delfinen erstaunliche Fähigkeiten erkennen lassen: verbblüffend ist dabei nicht nur, dass Delfine, von denen ein Teil auf das Fressen von Säugetieren spezialisiert ist, Hunde und Menschen aus Seenot retten. Es gibt auch einen Fall, in dem Delfine, die häufig von Forschern besucht wurden und dabei sehr ausgelassenes Verhalten an den Tag legten, bei einem Besuch des Forschungsschiffs auffällig anders reagierten: am Ende stellte sich heraus, dass einer der Forscher tot in seiner Koje lag und die Tiere nach der Fahrt des Schiffes zum Hafen und zurück wieder zu ihrem alten Verhalten zurückkehrten. Und mehr noch: entfernt man sich von Stereotypen, erkennt man bei vielen Tierarten eigenständige „Persönlichkeit“:

„Die Persönlichkeit ist wahrscheinlich der am wenigsten anerkannte Aspekt freilebender Tiere. Delfine haben Persönlichkeit im Übermaß. Sie werden mit Persönlichkeit geboren. Schüchtern. Mutig. Wild. Rabaukig. Wenn wir „Elefanten“, „Wölfe“ oder „Killerwale“, „Schimpansen“ oder „Raben“ ansehen, dann sehen wir Stereotypen. In dem Moment aber, wo wir unser Augenmerk auf einzelne Tiere richten, sehen wir, dass sich Individuen voneinander unterscheiden. […] Das hat nichts mit „Persönlichkeit“ zu tun, sondern mit Individualität. Es ist eine Tatsache des Lebens. Und sie ist tief verwurzelt.“ (S. 473).

Safinas Buch bietet eine überaus spannende, fesselnde Lektüre, auch wenn einem zwischen den Zeilen immer wieder Melancholie entgegenweht: die hier beschriebenen Tiere und viele andere sind bedroht, weil wir ihre Lebensräume bedrohen und nicht in der Lage sind, uns aus unserer uns von uns selbst zugeschriebenen Einzigartigkeit und unserer angeblich so besonderen Rolle zu verabschieden. Ein bewegendes, intellektuell anregendes Buch, das einen lange beschäftigt!

12 Kommentare zu “Die Intelligenz der Tiere : Wie Tiere fühlen und denken / Carl Safina

  1. Pingback: Carl Safina: Die Intelligenz der Tiere – Elementares Lesen

    • Eine feine Rezension dieses spannenden Buches. Und vielen Dank für die freundliche Verlinkung meines bescheidenen Beitrags darüber. Herzlich grüsst Jarg

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  2. Herzensdank, lieber Jarg,
    für diese ausführliche, aussagekräftige Besprechung mit ansteckender Begeisterung.
    Das ist definitiv wieder ein Buch für mich!
    Tiere verfügen auf jeden Fall über Indiviualität und Persönlichkeit. Das kann ich sogar schon bei den Singvögeln beobachten, die zur Futterstelle auf meinen Balkon kommen.
    Da gibt es Überängstliche, Gelassene, Futterneidische und Großzügige sowie sogar ganz vorwitzige Piepmätze (Meisen), die bei geöffneter Balkontür hereinhüpfen, obwohl ich – zwar in relativ ruhiger Haltung – im Raum bin.
    Naturverbundene Grüße von
    Ulrike 🙂

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    • Gern geschehen, liebe Ulrike.
      Es erscheinen in jüngster Zeit ja viele Bücher zum Thema, die einem die Augen öffnen. Das nächste liegt schon auf meinem Schreibtisch. Wenn ich an die morgendliche Krähengang vor der Bibliothek denke: die sind unglaublich geschickt und haben uns sogar im Bluck, wenn wir Meter entfernt von Fenster stehen und rausgucken. Wenn wir bloss mehr innehalten, wahrnehmen, staunen und uns Menschen insgesamt nicht so wichtig nehmen würden …
      Sehr herzliche Grüsse aus einem Zug im Nordosten von Hamburg von
      Jarg

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  3. Salut, das Buch lese ich auch gerade und finde es wunderbar. Nachdem wir schon beide das Pilzbuch gelesen haben hnd toll fanden, bin ich mir sicher, dass ich auf deinem Blog noch mehr Anregungen finde, da wir ähnliche Lesevorlieben zu haben scheinen.

    Ich hatte im Mai ein Monatsspecial „Tiere“. Vielleicht findest du da auch noch den ein oder anderen Tipp…. Schau mal: https://travelwithoutmoving.de/category/tiere/

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    • Im Augenblick erscheint ja viel zu diesen Themen. Das nächste Buch liegt schon auf meinem Schreibtisch und den neuesten Wolleben habe ich auch schon durch. Danke für den Link: da sind auf den ersten Blick eine Menge spannende Sachen drin, die ich noch nicht kenne.
      Ein schönes Wochenende wünscht dir Jarg

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  4. Mh, hatte das Buch in der Bücherei gesehen und nun den Wunsch es zu lesen, obwohl ich schon die ganze Zeit das geahnt habe, was du im letzten Absatz schreibst: es geht halt auch um die Bedrohung dieser Tiere, die durch uns ausgeht…

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    • Ja, um die Bedrohung geht es durchaus auch. Das Thema Intelligenz steht aber im Fokus … und dass wir ganz am Anfang unserer Verständnisses für die erstaunlichen intellektuellen Fähigkeiten von Tieren stehen.

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