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Lesen auf dem E-Book-Reader 2: der 49-Prozent-Twain und der Unsinn von Lesechallenges und Rekord-SUBs

Ich lese normalerweise nicht gegen die Zeit und gestehe jedem Buch die Stunden zu, die es braucht, um ihm gerecht zu werden. Bei den über 1100 Seiten, die Mark Twains „Geheime Auitobiografoe“ auch in der elektronischen Ausgabe umfasst und die es in zwei Wochen zu bewältigen gilt, komme ich natürlich auch an meine Grenzen, zumal ich immer noch fremdgehe mit anderen Büchern, gelegentlich auch dieser Blog und seine Leserinnen und Leser nach Aufmerksamkeit verlangen und ich außerdem auch noch über so etwas wie zeitlich limitierende dienstliche Verpflichtungen verfüge.
Allerdings stellt sich natürlich bei einem Anmerkungsapparat von gut 400 Seiten wesentliche Fragen, ob ich nicht mittlerweile schon eher bei einem 80-Prozent-Twain bin. Möglich. Ich werde es nicht weiterverfolgen.

Ebensowenig habe ich vor, in Zukunft bei irgendwelchen Lesechallenges mitzumachen, die einem beim Browsen zuhauf entgegenstürmen und lautstark skandieren: „Mach mit!“, „Lies viel!!“, „Lies ganz viel!!!“, ohne die Frage zu beantworten, ob bei derart exessiver Lektüre überhaupt noch etwas hängenbleibt. Geschweige denn was . Ich habe ja die starke Befürchtung, dass die Weiterverbreitung von E-Book-Readern und damit auch die steigende Zahl von gelesenen E-Books die Zahl solcher Challenges ebenso steigen lassen wird wie die sogenannten „SUBs“ an Höhe gewinnen.
Nun, auch ich habe sicher defintionsgemäß einen „SUB“. Allerdings würde ich dazu neigen, diese Defintion weiter zu fassen und alle von mir bisher nicht gelesenen Bücher damit zu bezeichnen einschliesslich jener, die ich NICHT bei mir zuhause in der Wohnung einstauben lasse (einschränkend vielleicht nur jene, die wirklich potentiell in mein Leseprofil passen): dann allerdings ist die Titelzahl dieses „SUBS“ auf einem normalumfänglichen Blog nicht mehr darstellbar. Ist es also eine Leistung, gewissermaßen Berge von Büchern abzutragen und darüber monatliche Statistiken zu führen, die teilweise die Zahl der Monographien, teilweise aber sogar die Seitenzahlen umfassen? Weshalb eigentlich nicht die Buchstaben? Oder den leeren Raum dazwischen? Werde ich dem einzelnen Buch noch gerecht, wenn ich vordergründig anstrebe, möglichst viele Bücher zu inhalieren?
Unwillkürlich frage ich mich, was mein 49-Prozent-Twain dazu sagen würde? Derzeit befindet er sich ja im Ruhemodus – ein Zustand, den ich nach dieser Woche eigentlich auch anstrebe. Mark Twain war ja bekanntlich nicht nur ein hervorragender Schriftsteller, sondern auch ein begnadeter Redner, der einen erheblichen Teil seines Unterhaltes mit Reden und Vorträgen bestritten hat. Wer weiß, was er für ein Blogger gewesen wäre? Auf jeden Fall scheint die Zeit damals auch ohne Fernsehen, Blogs und Facebook hinreichend aufgeregt von sich selbst gewesen zu sein, um massenweise selbstreferentielle Botschaften zu produzieren, die nach einem halben Jahr niemanden mehr interessieren. Twain zieht dabei interessante Paralellen zwischen Dorfzeitungen und Großstadtzeitungen, deren Berichterstattung sich letztlich inhaltlich wenig unterscheiden. Nur das Personal ist anders: geht es hier um den Großbauern, geht es dort um den Eisenbahnmagnaten. Finanzkrisen, Korruption, öffentliche Eitelkeiten und Bigotterie – alles damals schon dagewesen, vor über 100 Jahren.
Was also hätte Mark Twain dazu gesagt? Hätte er diesen Phänomenen eine Beachtung geschenkt? In Anbetracht der zahllosen, äußerst lesenswerten Abschweifungen, die seine Autobiografie kennzeichnen, ist das zumindest nicht auszuschliessen. Aber es kann auch ganz gut sein, dass er es einfach nicht beachtet hätte. Wie diesen Artikel womöglich auch.
Pause vorbei. Arbeitsmodus. Bis später.

25 Kommentare zu “Lesen auf dem E-Book-Reader 2: der 49-Prozent-Twain und der Unsinn von Lesechallenges und Rekord-SUBs

  1. Lesechallenges würde ich auch nicht mitmachen. Wenn ich da bei anderen erfahre, wie viel Kaffee da bereitsteht, um das Wochenende wach durchzustehen – ne! Ich habe einen SuB, einen grossen. Das liegt daran, dass ich kaum je aus einer Buchhandlung oder aus dem Antiquariat treten kann, ohne ein Buch gekauft zu haben. Und vielleicht, damit der Vorrat gross genug ist, wenn es das Papierbuch nicht mehr gibt 😉

    Schöne Grüsse
    buechermaniac

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    • Ach, das Papierbuch wird bleiben, da bin ich sicher. Die Usability ist nach vielen hundert Jahren der „Hardwareentwicklung“ einfach unschlagbar (schrieb er mit einem E-Book-Reader in der Tasche).

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  2. Ich finde ja, dass man nicht alle Challenges über einen Kamm scheren kann. Ich habe letztes Jahr an einer Challenge teilgenommen, bei der die Nachnamen der gelesenen Autoren das gesamte Alphabet abdecken sollten. Anfangs war das sehr leicht, aber dann habe ich festegestellt, dass bestimmte Buchstaben in meinem Bücherregal fehlen. Auf der Suche nach Autoren mit diesen Anfangsbuchstaben habe ich einige tolle Entdeckungen gemacht. So etwas kann einen dazu bringen, einmal von den gewohnten Lesewegen abzuweichen und neue Erfahrungen zu machen.

    Gelesene Seiten habe ich dagegen noch nie gezählt, das finde ich gänzlich uninteressant.

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    • Da hast Du natürlich Recht: in dieser Form bekommt das Sinn und kann sehr bereichernd sein.
      Die Aussage war halt eher auf die schiere Masse dieser „Herausforderungen“ gerichtet, die eine solche Qualität nicht erreicht.
      Ja, die Seitenzahl. Vielleicht wiegt irgendjemand noch die gelesenen Bücher. Das wäre dann mal neu 😉

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  3. Alles schon gesagt zu diesen Listen, Wettbewerben und Mitmachdingern. Ich brauche mich also nicht aufzuregen und kann mich ganz dem widmen, was ich tun möchte. Dank Euch allen!!

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  4. Also von Lese-Challenges halte ich auch nichts. Aber Lesestatistiken finde ich interessant. Wieviel Bücher, Sprachen, Genres habe ich gelesen. So kann man ggf. seine Lese-Routine anpassen.
    Hab z.B. mal festgestellt, dass ich in einem Jahr hauptsächlich englischsprachige Autoren gelesen habe und mir im nächsten Jahr ein paar deutsche Klassiker vorgeknöpft.
    Dem E-Reader verweigere ich mich immer noch standhaft. Der würde mich glaube ich mit seinen unbegrenzten Möglichkeiten an kostenloser Literatur überfordern…

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    • Sicher, so eine Art innere Karte der Leseentdeckungsreisen (nenne es Lesestatistik) habe ich auch im Kopf, weiss, wo ich mich lange aufgehalten, tiefer vorgedrungen bin wie etwa zur Zeit mit meinem Faible für zeitgenössische norwegische Literatur. Solcherart gewissermaßen selbstreflexiv über die eigenen Leseerlebnisse und ihre Verbindung zum „restlichen“ Leben und dessen gegenwärtiger Gefühls- und Erlebnislage nachzudenken, scheint mir auch sinnhaft. Veröffentlichen würde ich solche mehr innerlichen Zusammenhänge wahrscheinlich eher nicht, weil sie mir ab einem gewissen Punkt zu privat wären.
      Was mir eigenartig vorkommt, sind diese zahlenfetischistischen Dauerpostings, die quasi stündlich die Bewältigung einer wie auch immer qualifizierten, meistens aber eher quantifizierten Leseleistung vermelden. Über die Bücher erfährt man meistens nichts – und wenn, dann erkennt man schnell, dass sie belanglos waren. Immerhin: die Leute lesen. Das immerhin ist positiv – und da mein Brot auch davon abhängt, dass Menschen lesen und ich da auch nicht immer so genau hinschaue, sollte ich vielleicht nicht so lästern. Mich wundert nur die Motivation – bzw. falls ich sie zu erkennen vermag, ist sie mir sehr fremd.
      Ich bin auch lange um E-Reader herumgekommen. aber da sie mir aus beruflichen Gründen dieses Jahr als Thema besonders nahe kommen, habe ich jetzt auch privat einen. Kein Ersatz für Papier, gewiss nicht. Dafür bin ich zu analog sozialisiert. Aber da ich mir die „unbegrenzten Möglichkeiten kostenloser Literatur“ durch ausschliessliche Nutzung der Onleihe selbst begrenze, ist das Gerät zumindest bei längeren Zugfahrten und/oder sehr, sehr dicken Büchern eine gute Lösung.

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  5. Danke für die klaren Worte zu dem Unsinn mit den SUBs und dem peniblen Nachzählen und Auflisten monatlich gelesener Bücher, und dann auch noch mit exakter Angabe der Seitenzahlen.

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    • Keine Ursache. Mich würden ja als beruflichem Statistikorakel immer eher die Zahl dr Buchstaben interessieren, aber die verrät niemand. Vielleicht kommt das bald mit steigenen Möglichkeiten elektronischer Lesegeräte … und wird dann live getwittert: „Anna Z. hat in der letzten Stunde 5376 Buchstaben gelesen“.

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  6. Käme nie auf die Idee… lese je älter ich werde, WENIGER und nur wenn ich Lust dazu habe…
    Lese auch nur Bücher … ohne technischen Schickschank… bin da herrlich altmodisch.
    Finde ich schon seltsam, auf was für Ideen die Menschen kommen..
    LG, Petra
    PS: Warum mußte ich gerade an diese Wettfressen von Bürgern denken?

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  7. : ) Also, ich hab diesen Monat noch keine einzige Dose Bohnen verzehrt. Und wie viele Seiten ich gelesen habe, ist mir eigentlich wurst (und allen anderen vermutlich auch), Hauptsache, sie waren gut, interessant, spannend etc. Liebe Grüße
    Petra

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  8. Zu diesen unsäglichen Lesechallanges und Daten- und Statistiksammelei habe ich gestern schon etwas auf einem anderen Blog geschrieben. Ich stehe da auch immer etwas kopfschüttelnd davor. Natürlich, jedem so wie’s ihm Spaß macht. So richtig erschließt sich mir diese ganze „Bewegung“ jedoch einfach nicht. Lesen soll doch Spaß machen und nicht in einen Wettbewerb oder eine Sportveranstaltung ausarten.

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    • Das ist wie die neueste Mode von Sportlern, die persönlichen Leistungen mittels technischer Gimmicks mitzuschneiden und live zu posten. Also mir macht Lauftraining auch ohne Online-Statistik über meine heute bewältigten Höhenmeter noch immer Spaß … 😉

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  9. Bei vielen ist es mit Sicherheit so. Die schreiben ja auch nur mit dem Verweis in Gästebücher, man könne „ja auch mal ihre Seite besuchen und so, aber nur, wenn man nix Besseres zu tun hat.“ .. das ist dann fast herzerweichend, wie sich die zuvor gemachten Komplimente durch diesen Zusatz demontieren.

    Bohnenchallenge. Wäre gar nicht übel. Du könntest auch ein „Haul“-Video drehen, in dem du zeigst, wie du die Bohnen auspackst. Und irgendwas darüber erzählst. Oder dich vielleicht besonders ungeschickt beim Öffnen der Tüte anstellst. Wenn ich sowas dann auf Youtube sehe, kann ich gar nicht mit Worten ausdrücken, wie alt ich mich fühle.

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    • Oja, das kenne ich. Solche Kommentare landen bei mir gerne im Spam.
      Das mit den Bohnen ist sicher ausbaufähig und das Öffnen der Dose spektakulär darstellbar. Und dann die Variationen: Dose überm Benzinkocher, Dose überm Feuer, Dose im Erdofen, Dose auf dem Grill … und als Intro immer der Einletungsfilm: der beherzte Griff und das Aufreissen der Dose. Oje, das ist ja schlimmer als die Homepages der Goldhamster, die es in den späten Neunzigern zu Hauf gab.

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  10. Diese zahllosen Challenges sind mir jetzt auch schon öfter aufgefallen. Es gibt ja Literaturblogs, die zu nahezu 80 % aus Statistiken und Challenges bestehen und bei denen ich mich immer frage – wo bleibt da der Inhalt? Wo bleibt die Auseinandersetzung mit dem Gelesenen? Oder ist es nicht viel mehr die Darstellung des Lesens: Hey, seht mal, ich lese ganz viel! Ein Zur-Schau-Stellen der eigenen Intelligenz? Ich führe zwar auch eine Liste, was ich im Jahr lese, aber nicht, um nachher statistisch auszuwerten, wie viel das durchschnittlich in jedem Monat waren, wie viele Seiten und wie viel Zeit meines Tages prozentual dem Lesen zufällt .. oder was auch immer man da noch ausrechnen und darstellen kann. Sondern lediglich zu Überblickszwecken für mich. Aber ich befürchte, das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen – die Darstellung des Tuns steht vor dem Tun. Und das höhlt die Dinge irgendwie aus, habe ich zusehends den Eindruck.

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    • Das ist eine treffende Beschreibung mit der „Darstellung des Tuns“. Böse gesprochen, entdeckt man auf den Blogs, die derlei Zahlenfetischismus betreiben, meistens auch nur seichtes Zeug. Sehr böse gesprochen. Also sollen die Zahlen vielleicht den nicht vorhandenen Inhalt überdecken oder das leere Gefühl, das seichte Literatur hinterlässt.
      Aber das Phänomen ist bestimmt nicht neu und sucht sich im Internet lediglich ein neues Gewand.

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      • Durch das Internet hat man lediglich mehr Möglichkeiten der Darstellung und eben keinerlei „Qualitätsbschränkung“. Jeder kann nahezu alles ins Internet stellen und gewinnt eine gewisse Leserschaft. Wie, das ist mir manchmal auch ein Rätsel, aber es funktioniert. Es sind nicht gerade wenige Leser, oft einige hundert Abonennten. Ich habe ja auch auf Youtube mal ein Rezensionsvideo gesehen, in der eine Rezensentin in die Kamera sprach, wieviele tausend Seiten sie diesen Monat gelesen hätte – und in eine Kamera gesprochen wirkt das noch um ein Vielfaches eigentümlicher als nur geschrieben.

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      • Schon seltsam. Vermutlich könnte man auch damit reüssieren, wieviele Dosen Schwarze Bhnen man diesen Monat verzehrt hat – da mein Sohn und ich die lieben, hätten wir mit einem Videoosting wahrscheinlich chancen auf irgendeinen Award. Und dann kommt die Bohnenchallenge …
        Vielleicht ist das aber auch ein sich selbst erhaltendes System: womöglich wollen einen die vielen hundert Abonnenten auf dem „Ich-lese-tausend-Seiten-täglich-Blog“ mit ihrem Klick auf den Follow-Button nur auf die eigenen Blogs locken – und im Endeffekt liest und sieht keiner etwas – aber alle haben einander abonniert. Wer weiß. Wäre bestimmt etwas für Mark Twain.

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