„Die Leidenschaft des Büchersammlers gleicht der eines Reisenden. Jede Bibliothek ist eine Reise; jedes Buch ist ein Fahrschein mit unbegrenzter Gültigkeit. Alexander zog durch Afrika und Asien, ohne sich von seinem Exemplar der Illias zu trennen; Historikern zufolge suchte er darin Rat und nährte seine Sehnsucht nach höherer Bedeutung. Die Lektüre eröffnete ihm, wie ein Kompass, Wege ins Unbekannte“.
„„Die Welt zu denken ist ein Handwerk, das sich den Büchern und der Lektüre verdankt, einer Situation also, in der wir die Worte sehen und geruhsam über sie nachdenken können, statt sie nur im raschen Fluss der Rede ausgesprochen zu hören.“
Bücher über die Geschichte des Buches und das Lesen an sich gibt es bereits einige. Nur wenige gehen über die rein sachliche Information hinaus und werden selbst zu einem literarischen Erlebnis, das Fakten und Erzählung so geschickt verbindet, dass man am Ende bereichert, aber auch traurig über das Ende der Lektüre zurückbleibt. Die 1979 in Sarragossa geborene Philologin Irene Vallejo hat eine innige Leidenschaft für die Antike und mit ihrem vorliegenden ersten Sachbuch auf Anhieb einen mehrfach ausgezeichneten Bestseller in Spanien gelandet.
„Papyrus“ ist wesentlich mehr als ein weiteres Buch über das Buch, das Lesen. Vallejo reist mit uns durch die Geschichte der Schriftlichkeit und der Literatur mit einem deutlichen Fokus auf das Altertum, überrascht mit erstaunlichen Fakten und Details und verknüpft die gesichterte Erkenntnis mit ihrer Fantasie, die versucht, die Lücken des Wissens und der Überlieferung zu füllen, ein lebendiges Bild zu schaffen der vergangenen Lesekultur und der Menschen, die sie geschaffen und am Leben gehalten haben. Natürlich spielt die legendäre Bibliothek von Alexandria eine große Rolle, die Geschichte der Bibliothek als Sammlung der Könige und der Mächtigen, als Tempel des Wissens, aber auch als Ort des Austauschs, der Weiterverbreitung, der Bewahrung, immmer bedroht von Krieg, Zerstörung, ideologischer Verblendung.
Überrascht nehmen wir zur Kenntnis, dass man sich früher vorlesen liess- nicht selten von gebildeten Sklaven, dass lautes Selbstlesen dem stillen Lektüregenuss vorausging, der verpönt war. Frauen hatten es schwer sowohl beim Zugang zu Büchern und damit Wissen und Literatur als auch mit eigenen Texten und erkämpften sich auch in der männerzentrierten Antike mühsam die Räume des Schriftlichen. Vallejo spannt mit Liebe zum Detail des Bogen von Papyrus, Papier, Pergament und Ebookreader, von der Schriftrolle zum Codex mit Einband, vom antiken Bücherhandel bis zum Raub von Bibliotheken, vom Buchhändler bis zum Zensor, von der fragilen Haltbarkeit des Buches, stets bedroht von Feuer, Wasser, Insekten, Unwissenheit oder absichtlicher Zerstörung. Sie nimmt uns mit nach Rom und Alexandria, zeichnet ein lebendiges Bild der Lesekultur und macht uns zugleich mit Persönlichkeiten bekannt, die die Geschichte der Buchwelt geprägt haben. Kallimachos, der erste Bibliothekar beispielsweise, Ovid, den die allmächtige Zensur traf, emanzipierte Frauenstimmen. Sulpicia etwa, von der nur sechs Gedichte erhalten geblieben sind, vielleicht eben weil sie über Freiheit, Liebe und Vergnügen schrieb zu einer Zeit, als Frauen wenig mehr waren als der Besitz eines Mannes.
Irene Vallejo ist ein opulentes, detailreiches und überaus gut erzähltes Sachbuch gelungen, für dessen Lektüre man sich unbedingt Zeit nehmen sollte. Für mich eine der eindrucksvollsten, bereichernsten Lektüren in diesem an schönen Büchern nicht armen Jahr, vergleichbar in der Intensität des Leseerlebnisses etwa mit Alberto Manguels „Die Bibliothek bei Nacht“ oder Richard Ovendens „Bedrohte Bücher“. Sehr empfohlen für alle, die literarische Sachbücher mögen und schätzen.