Es gibt wohl kaum eine andere Form des Reisens, die eine so gute Mischung zwischen Schnelligkeit, entspanntem Reiseerlebnis, Land(schafts)erlebnis und zwischenmenschlicher Begegnung ermöglich wie das Reisen mit der Eisenbahn, das eine große Zeit hinter sich hat und in Zeiten des Klimawandels hoffentlich eine große Zukunft. Der 1972 in Turnov (Tschechoslowakei, heute Tschechien) geborene und in Berlin lebende Schriftsteller und Dramatiker Jaroslav Rudiš wollte seit frühester Kindheit Eisenbahner werden wie manch andere in seiner Familie auch: doch die Notwendigkeit, eine Brille tragen zu müssen, verbaute ihm diesen erstrebenswerten Berufsweg in die Welt der Eisenbahnen und Zugreisen. Ein Glück für uns als Leser*innen im Allgemeinen und im Speziellen für die eisenbahnbegeisterten Leser*innen: mag aus Rudiš auch kein Eisenbahner geworden sein, so doch ein Schriftsteller, der über die Eisenbahn schreiben kann – und der vor allem leidenschaftlich gerne mit der Eisenbahn reist.
In Verbindung mit zahlreichen persönlichen, eisenbahnbezogenen Erlebnissen und Reflexionen erfahren wir so nicht nur Wissenswertes über reisenswerte historische und gegenwärtige Strecken, sondern auch über die Geschichte der Eisenbahn, übder die schönesten Bahnhöfe, über Speisewagen und Nachtzüge, Lokomotiven und Eisenbahngeräusche. Erstaunt nehmen wir zur Kenntnis, dass Antonín Dvořák ein leidenschaftlicher Trainspotter war und erfahren, dass es unter Eisenbahnmenschen (also Leuten, die von Eisenbahnen fasziniert sind), offenbar Tunnelmenschen, Brückenmenschen, Stellwerksmenschen, ja sogar Schottermenschen und Schrankenmenschen gibt, die in ihrem jeweiligen „Fachgebiet“ erstaunlich gut Bescheid wissen. Wir suchen plötzlich nach dem Bundesbahnblues, intertretiert vom legendären Helmut Qualtinger, geschrieben von Gerhard Bronner und inspiriert von einer Anekdote über Louis Armstrong, der 1956 auf auf seiner Europatour in Attnang-Puchheim strandete, weil es dort so gut nach Würstchen roc, den Anschlusszug verpasste und am Auftrittsort in Wien dadurch einiges an Beunruhigung auslöste.
Jaroslav Rudiš schreibt humorvoll und sachkundig mit feinem Blick für Details, berichtet von seinem exzessiven Bahnfahrten wie etwa den 40 Stunden durch Deutschland mit Freunden oder der immer wieder gesuchten Begegnung mit Speisewagenwirten auf bestimmten Strecken. Wir begegnen neben den eisenbahnernden Familienmitgliedern auch Lokführern und Schaffner, Speisewagenkellner und Mitreisenden mit all ihren geschichten. Er lässt uns so einfach mal zwischendurch ein bisschen bahnträumen, während wir auf der Landkarte den Strecken träumen und am Liebsten selbst all diese schönen Strecken nachfahren möchten. Und wie schön bitte klingt ein Reiseziel namens „Maribor“, dass sich von Hamburg aus in gut 12 Stunden über nacht erreichen lässt?
Wer die Eisenbahn trotz all ihrer durch jahrelange Versäumnisse bewirkten Einschränkungen liebt und ebenso gerne in den Zug steigt wie der Schreiber dieser Zeilen, wer dazu überzeugt ist und vielleicht gar selbst erlebt hat, wie sehr Europa durch die Eisenbahn über Grenzen hinweg verbunden ist, der wird dieses Buch, das ich sehr gerne empfehle, lieben und von der ersten Seite an mit großem Genuss lesen und auch aus en passant vermittelten reisepraktischen Hinweisen großen Gewinn schöpfen.
Eine feine Besprechung und eine Verführung dazu.
Dazu fällt mir ein zum Thema passendes Buch ein, das ich letzthin mit Genuss gelesen habe.
Guido Fuchs: In der Bahnhofsgaststätte. Ein literarisches Menu in zwölf Gängen.
Schöne Grüße
Robert
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Ich habe deinen Beitrag zum obigen Buch gerne gelesen und hoffe, dass sich das Zugfahren wegen der vielen Vorteile noch viel mehr durchsetzen wird! Vielen Dank.
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