Die Geschichte von der Zerstörung des Wissens ist wahrscheinlich so alt wie die Geschichte des schriftlich in Archiven und Bibliotheken bewahrten Wissens. Richard Ovenden, 25. Bodley Librarian und damit Leiter einer der ältesten Bibliotheken Europas, zieht in seinem Buch einen weiten Bogen aus der Vergangenheit bis in unsere digitalisierte Gegenwart und zeigt auf, wie wichtig Bibliotheken und Archive sind und welchen Gefahren dokumentiertes Wissen im Lauf der Geschichte, aber auch ganz konkret im hier und jetzt ausgesetzt ist.
Für seine These, dass unsere Zivilisation selbst auf dem Spiel steht, wenn wir die Bewahrung des Wisens in welcher Form auch immer vernachlässigen oder zum Spielball finanzieller und politischer Interessen machen, zieht er einige bekannte und weniger bekannte Beispiele heran: allen voran ist die berühmte Bibliothek von Alexandria zu nennen, deren schwierig zu erschliessender Geschichte und der damit verbundenen Mythen er sich ausführlich. Differenziert geht er auf in Kriegen zerstörte Bibliotheken ein wie die von den Deutschen zertörte Bibliothek von Leuwen, die von den Briten verwüstete Library of Congress und die in den Balkankriegen zerstörte Bibliothek von Sarajewo. Er problematisiert die unzureichend erhaltene Übermittlung von Dokumenten aus der Kolonialzeit, die nicht selten bewusst bei der Aufgabe der Kolonien zerstört wurden und schildert spektakuläre Rettungen wie die durch die Papierbrigadde im Ghetto von Wilna (Litauen). Die Vernichtung bestimmter Autorennachlässe ist ebenso Thema wie ihre bewusste, dem letzten Willen entgegenstehende Erhaltung oder ihre dem letzten Willen widersprechende Erhaltung. Ausführlich widmet er sich auch der Verlagerung des irakischen Nationalarchivs in die USA, die einerseits aufgrund der Instabilität der Region konservatorisch notwendig erscheint, der irakische Zivilgesellschaft aber den Zugang zu einem Teil ihres kulturellen Erbes erschwert. Die sogenannte Gauck-Behörde, die für den Erhalt der Stasi-Akten zuständig ist, findet ebenso Erwähnung wie vergleichbare, zum Teil gescheiterte Initiativen in anderen Ländern, die von Unterdrückung und Diktatur zu Demokratie und Aufarbeitung gewechselt sind. In dem Zusammenhang problematisiert er auch staatliche oder religiöse Eingriffe in die Arbeit von Bibliotheken.
Haben Bibliotheken und Archive deshalb noch eine Bedeutung für Gegenwart und Zukunft – gerade auch vor dem Hintergrund des Bestrebens, alle ihre Betsände irgendwann digitalisiert und somit auch online zugänglich gemacht zu haben. Richard Ovenden plädiert deutlich dafür, die jahrhundertealte Erfahrung dieser Institutionen auch für die Bewahrung der in digitalen Kontexten entstandenen Informationen zu nutzen und deren Erhalt nicht nur privaten Initativen wie dem Internet Archive oder der Willkür datensammelnder Unternehmen wie Google zu überlassen. Im Gegenteil: auch hier bedarf es gesetzlicher Maßnahmen und finazieller Mittel, um denjenigen Teil virtuell vorhandener Informationen oder Kommunikation für die Nachwelt zu erhalten, der für das Verständnis unserer Zeit erforderlich sein könnte. Dabei bezieht Ovenden scheinbar flüchtige Plattformen wie Twitter oder WeChat ausdrücklich mit ein und findet plastische Beispiele, um diese Notwenidgkeit zu begründen.
Fazit: ein überaus spannendes, anregendes und schön gemachtes Buch für Menschen, die sich für die Kulturgeschichte des Wissenserhalts interessieren – und für dessen digitale Zukunft.
Danke für den Hinweis! Das klingt absolut interessant!
Textopfer
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und es kommen immer neue solche Lesereien 😉
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Hierzulande, lieber Jarg, ist es im Augenblick ganz schlimm mit Buecherverboten. Buecher werden nicht nur von Leselisten gestrichen sondern aus auch (Schul)bibliotheken verbannt, u.A. z.B. ueber den Holocaust, weil sie „jugendgefaehrdend“ sind. Schau‘ mal in diesen Artikel hier rein [https://is.gd/Eionmc]. Bei mir kommt da Angst auf.
Liebe Gruesse,
Pit
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Lieber Pit, danke für deinen Kommentar und den Link. Ich habe das auch schon woanders gelesen und war entsetzt. Es ist erschreckend, was in den USA mittlerweile möglich ist – und in welche Richtung das noch gehen könnte bei einem Land, dass immer noch so groß und mächtig ist. Was für eine düstere Welt scheint da auf einmal als eine mögliche Zukunft vor uns zu liegen? Und wie viel wird da aufs Spiel gesetzt, weil Menschen ihre Macht gefährdet sehen und ihre Sicht der Welt als absolut nehmen?
Liebe Grüße von
Jens
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Es ist schon wirklich erschreckend, lieber Jarg, wie die Intoleranz zunimmt – nicht nur hier, aber hier wohl ganz besonders.
Liebe Gruesse, und hab‘ eine feine Woche,
Pit
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Es bleibt halt nur, weiter im persönlichen Umfeld tapfer dagegen zu halten und auf Hölderins Diktum zu hoffen: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“.
Auch Dir eine feine Woche und beste Grüße aus der norddeutschen Tiefebene von
Jarg
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Hi, lieber Jarg,
da hast du uns ja auf ein scheinbar tolles Buch aufmerksam gemacht, eines, dass so ganz unserem Geschmack entspricht. Herzlichen Dank 🙏 🙏
Dann mach’s gut, bleib gesund und munter
The Fab Four of Cley
🙂 🙂 🙂 🙂
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Moin lieber Klausbernd,
sehr gerne. Die Lektüre lohnt auf jeden Fall und im englischen Original bestimmt noch mehr.
Beste Grüße aus der norddeutschen Tiefebene von
Jarg
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