Ich war ja zunächst etwas skeptisch ob des tatsächlichen Informationsgehalts eines Buches, dass die Geschichte Deutschlands erzählen will mit Hilfe von 100 Gebäuden. Doch kaum hatte ich mit der Lektüre begonnen, war ich angenehm überrascht. Marion Bayer hat mit großer Sorgfalt aus der Fülle potentiell interessanter Bauwerke Beispiele ausgewählt, die auf indirekte oder direkte Weise mit einem wesentlichen Teil deutscher (und damit oft auch europäischer) Geschichte verbunden sind.
Natürlich sind eine ganze Menge Gebäude dabei, die sehr bekannt sind, etwa das Westwerk des Naumburger Dom, den Kölner Dom, das Brandenburger Tor in Berlin, das Dürer-Haus in Nürnberg oder die Fuggerei in Augsburg. Auch das Nationaltheater in Weimar und den Reichstag hätte man erwartet. Aber Bayer stellt auch überraschende Bauwerke vor, die sich bei näherer Betrachtung als ebenso guter Fokus für ein Segment der deutschen Geschichte und Kulturgeschichte erweisen: darunter finden sich das Straßburger Münster, das Gebäude der Agentur für Arbeit in Hamburg aus den 1920er Jahren, die Marienburg in Polen oder das Versailler Schloss bei Paris.
Stets gelingt es Bayer, von der Geschichte des Gebäudes und seiner architektonischen Details und Besonderheiten in direkter oder indirekter auf geschichtliche Ereignisse, gesellschaftliche Zustände, soziale und wirtschaftliche Entwicklungen oder politische Zeitläufte hinzuleiten. Düstere Kapitel der deutschen und europäischen Geschichte aus älterer und jüngerer Zeit (Dreissigjähriger Krieg, Auschwitz) spart sie dabei nicht aus. Sie macht deutlich, dass Bauwerke immer auch Geschichten erzählen, in manchen Fällen für epochale Wendungen stehen können und nicht selten symbolisch über ihre Zeit hinausreichen, weil sie aufgrund in ihrer Funktion, ihrer baulichen Besonderheiten, ihrer architektonischen Details oder als Ort eines besonderes Ereignisses bedeutsam waren und sind.
Dabei enthüllt sie auch dem durchaus historisch interessierten und im gewissen Umfang belesenen Zeitgenossen die eine oder andere geschichtliche Überraschung: so war mir nicht klar, welche Rolle die ehemalige Burg Wildenberg im Odenwald bei der höfischen Dichtung gespielt haben könnte oder wie sich am Beispiel des Schul- und Marktschreiberhaus aus Markt Simbach ein Teil der Geschichte des deutschen Bildungssystems ablesen lässt. Am Beispiel des Hambacher Schlosses streicht sie heraus, dass der mit schwarz-rot-goldenen Fahnen geschmückte Festzug damals nicht nur für die Freiheit Deutschlands Forderungen stellten, sondern gleichermaßen nach einer europäischen Gemeinschaft strebten. Etwas, dass man sich heute, da die Europäische Union so gefährdet zu sein scheint wie nie, gar nicht oft genug ins Gedächtnis rufen kann. Auch und gerade wenn man weiß, dass die Geschichte Deutschlands immer eng mit der Europas verknüpft war.
Ein ausgesprochen lesenswertes, anregendes Buch, das ich jedem, der sich für Geschichte interessiert, nur wärmstens empfehlen kann.
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Das merke ich mir vor für meinen nächsten Bibliotheksbesuch … Guter Tipp ☺
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Dann wünsche ich Dir eine bereichernde Lektüre!!
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Danke für diesen Hinweis, das klingt ja ziemlich interessant. Diese 100 X -Bücher sind ja offenbar grad sehr in Mode, umso schöner, dass sie auch zu funktionieren scheinen. Werde ich mir jedenfalls definitiv anschauen – merci!
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Gern geschehen. Du dürftes es nicht bereuen, denn bei diesem Buch ist das Konzept auf jeden Fall gelungen und spannend umgesetzt.
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