Zunächst erwartet man von einem Buch mit dem Titel „1913“ vielleicht ein klassisches Geschichtsbuch, dass sich historisch-analysierend mit dem einen Jahr vor der ersten großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts in Form des Ersten Weltkrieges befasst. Doch bereits die Gestaltung des Titels, der eine impressionistische Fotografie des Farbbildpioniers Heinrich Kühn zeigt, verweist uns zusammen mit dem Untertitel „Der Sommer des Jahrhunderts“ darauf, dass dieses Buch einen anderen Schwerpunkt, eine andere Darstellungsform suchen könnte als die faktenreiche historische Aufarbeitung.
Und so ist es auch: Florian Illies entführt uns mit seinem Buch in ein Jahr, in dem das 20. und das 19. Jahrhhundert auf bemerkenswerte Weise begegnen, sich Wege, Erscheinungen, kulturelle und soziale Entwicklungen auf bemerkenswerte Weise kreuzen, Literatur, Musik und Kunst neue Wege gehen, Lebenswege entscheidende Wendungen und Kreuzungen nehmen. Wir begegnen dem zaudernden Kafka und seiner seitenlange Briefe erzeugenden Liebe zu Felice Bauer, dem rastlos reisenden Rilke, stets auf der Flucht vor der konkreten Liebe und abhängig doch von seinen Mäzenatinnen, Kirchner, der einige seiner wichtigsten Werke in Berlin schafft, während die Künstlervereinigung „Die Brücke“ genauso zerbricht und Sigmund Freud und C. G. Jung sich entzweien. Es ist das Jahr des ersten Aldi-Supermarktes, der ersten Mailänder Prada-Filiale, der Adoleszenz und ersten schriftstellernden Versuche des 15jährigen Bertold Brecht. Die Mona Lisa ist geklaut, doch Picasso war es nicht und natürlich auch nicht der rasend in Alma Mahler, Gustav Mahlers Witwe, verliebte, ja von ihr besessene Oskar Kokoschka, der endlich sein Meisterwerk schafft und Alma an Walter Gropius verliert. Marcel Duchamp schockt die Öffentlichkeit mit seiner Objektkunst, Strawinsky und Schönberg mit ihrer Musik, während Alfred Kerr genüsslich Thomas Manns neuestes Theaterstück verreisst und Max Weber die Welt entzaubert sieht. Und ein mittelmäßiger Postkartenmaler namens Hitler hält sich zur gleichen zeit in Wien auf wie der vor dem zaren geflohene russische Propagandist Stalin.
Illies zeigt uns in seiner elegant geschriebenen, aus humorvoll verwandelten Anekdoten und Fakten geschaffenen Verdichtung ein Jahr des Aufbruchs und des Untergangs, der Erwartung und des Überdrusses. Und er zeigt, wie sich Lebenswege und daraus beeinflusste Entwicklungen wiederum gegenseitig bedingt haben, wer wen kannte, sich zerstritt, befreundete, verliebte, unterstützte oder bekämpfte und schafft so ein atmosphärisch dichtes Bild der Welt vor dem Beginn des Krieges, als kaum jemand diesen Krieg wirklich für möglich hielt. Ein gut arrangiertes und komponiertes Buch, schön geschrieben und mit leisem Humor gewürzt, dessen Lektüre ungemein spannend und bereichernd ist und uns eine vergangene Zeit und ihre heute legendäre Kunst und Kultur lebendig in die Gegenwart holt.
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Ich bin gespannt. Das Buch ist im Anmarsch und ich bin sicher, dass das Lesen über Weihnachten funktioniert.
C.H.
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Dann wünsche ich eine im wahrsten Sinne des Wortes bereichernde Lektüre.
Herzlich grüsst Jarg
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Lieber Jarg,
ich hatte einst einen megaklugen Professor, der Gumbrecht heißt, wenn ich mich recht erinnere, hat er ein Buch mit ähnlichem Konzept über 1924 geschrieben.
Das Buch klingt aber auch sehr interessant. Ich lasse es mir kommen, bin gespannt. Danke 🙂 und ganz liebe Grüße
Klausbernd
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Lieber Klausbernd,
dann wünsche ich Dir eine schöne, anregende Lektüre mit „1913“ – und lege mir mal „1926“ von Hans Ulrich Gumbrecht, erschienen 2001 bei Suhrkamp, als lesenswert auf Wiedervorlage in den Cortex 😉
Liebe Grüsse von der Elbe Auen sendet
Jarg
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Was für eine schöne Besprechung! 🙂 Das Buch liegt hier bereits, aber bisher leider noch ungelesen – ich habe es mir nach einer ebenso schönen Besprechung von literaturen gleich gekauft und bin nun noch gespannter auf die Lektüre!
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Das Buch macht Lust, Fäden aufzunehmen, Spuren zu folgen – kurz: weitere Bücher zu lesen. Auch in diesem Sinne wünsche ich eine anregende Lektüre!
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Eine tolle Rezension zu einem tollen Buch!
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Danke schön!
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