Damit ergab sich ein Dilemma für die Gesellschaften des Westens, das sie bis heute nicht überwunden haben und ganz besonders für die gebildete Mittelschicht, die sich noch heute als Motor des sozialen Gefüges begreift. Ihr moralischer Anspruch gründet sich auf die Idee von Demokratie und universellen Menschenrechten und ist der Aufklärung verpflichtet. Ihr wirtschaftlicher Erfolg und ihr Wohlstand aber gründen sich auf ein anderes Erbe des 17. Jahrhunderts: Wachstum, das auf Ausbeutung beruht, auf einer Ausbeutung, die sich niemals mit den Ansprüchen der Aufklärung vereinbaren lässt. (S. 238)
Bei all der Feierei um die Reformation und den meines Erachtens durchaus überschätzten Martin Luther konnte man ja leicht den Eindruck gewinnen, unsere Moderne Zeit mit ihren Freiheiten und Errungenschaften gründe im Jahr 1517. Dabei liegen die Ursprünge von Freiheit, Menschenrechten, technischem und landwirtschaftlichem Fortschritt und der fortschreitenden Globalisierung mit all ihren Licht- und Schattenseiten vor allem in jener Zeit zwischen 1570 und 1700 begründet, die heute als „Die kleine Eiszeit“ bekannt ist. Diese These vertritt jedenfalls der Historiker und Journalist Philipp Blom – und er belegt sie gut. Dabei macht er nicht den Fehler, die klimatischen Verhältnisse in jener Zeit als alleinige Ursache für die massiven gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und technischen Veränderungen darzustellen.
Ausgehend von Gemälden niederländischer Maler aus dem späten 16. Jahrhundert, die das zu jener Zeit nicht umsonst beliebte Genre der Winterlandschaften zeigen, erzählt Blom überaus spannend und anschaulich, welche Reaktionen mehrere Jahre von Mißernten, Hungersnöten und extrem kalten Jahren mit sich brachten: ausgehend von der starken Rolle des Glaubens war die Reaktion zunächst eine religiöse, denn
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts suchte man die unmittelbaren und mittelbaren Antworten auf die Veränderung der Natur und die von ihr verursachte Krise der Landwirtschaft immer häufiger in der Religion. Die offizielle Interpretation natürlicher Ereignisse lag in den Händen von Theologen, die in Berichten über Kometen, Erdbeben und Überflutungen Gottes strafende Gerechtigkeit zu erkennen glaubten.
Schnell wurden Sündenböcke gesucht und in den Juden oder vermeintlichen Hexen gefunden: das zunehmend von Religionskriegen erschütterte Europa wurde so zusätzlich zu einem für kritische oder andersgläubige Geister gefährlichen Ort. Man konsultierte die Sterne oder ging von göttlichen Strafen aus, sah den Untergang nah oder gar das Jüngste Gericht. Doch die Religion konnte weder eine Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ noch Lösungen anbieten. Das taten andere: die Renaissance und die Wiederentdeckung antiker Autoren bis hin zu dem berühmten Gedicht „De rerum natura“ von Lukrez hatte die Neugier auf die Welt, ihre Erscheinungen und Mechanismen und das Streben nach Antworten, nach Wissen angefacht. Botaniker sammelten Pflanzen auch aus der neuen Welt und untersuchten ihre Verwendungsmöglichkeiten, Kaufleute fanden Wege, zumindest einen Teil der Mißernten auszugleichen über neue Handelsrouten, die Städte wie Amsterdam rasch zu wichtigen Logistikzentren aufsteigen ließen:
Wenn wir das Klimageschehen der ‚Kleinen Eiszeit‘ miteinbeziehen, lässt sich P[…] ergänzen: Das soziale und wirtschaftliche System des feudalen Europa basierte ganz auf Landbesitz und lokaler Getreideproduktion. Dies war der zentrale, verwundbare Punkt. Als die Temperaturen weit genug abgesunken waren, um die Getreideproduktion oft und empfindlich zu stören, geriet die wirtschaftliche Grundlage und mit ihr die gesamte Ordnung Europas ins Wanken. Die Europäer waren gezwungen, Alternativen zu einer Lebensweise zu finden, die sich seit mehr als einem Jahrtausend kaum verändert hatte.#
Denker wie Descartes oder Vaninni, ja sogar naturwissenschaftlich interessierte Kirchenleute schauten hinter die gängigen Welterklärungsmodelle und publizierten in der durch den Buchdruck mittlerweile revolutionierten Zeit ihre Erkenntnisse, die sie nicht selten in verklausulierte Formen bringen mussten, um die darin verborgene Religionskritik an der Inquisition und anderen fundamentalistischen Glaubenswächtern vorbeizuschmuggeln. Nicht selten aber, wie bei Giordano Bruno etwa, endeten die aufklärerischen Gedanken auch mit dem Tod oder notwendiger Flucht. Die Alphabetisierung begann, weitere Teile der Bevölkerung zu erfassen, Schulen wurden nicht selten gegen den Widerstand des herrschenden Klerus und der Aristokratie, die um Machterhalt fürchtete, zu einem wichtigen Mittel der Aufklärung, die manchem trotz geringer Herkunft den Aufstieg ermöglichte. Kaufleute revolutionierten den Handel, schafften neue Möglichkeiten des Investierens, die riskante Unternehmungen finanziell auf die Schultern vieler stützten und so Kapital aufbringen konnten, das sich im Erfolgsfall vielfach verzinste.
Die philosophischen Diskussionen der Aufklärung, der Beginn der modernen Wissenschaft und eine stetig sich fortentwickelnde Technik schafften die Voraussetzungen für gesellschaftliche und politische Fortschritte. Sie schafften auch die Voraussetzungen für die Globalisierung, die wir heute erleben und die damals wie in der Gegenwart mit gerne hierzulande ausgeblendeten Nachteilen erkauft wurde. Auch Voltaire, der Toleranz predigende Philosoph, könnte als einer der ersten Neoliberalen gelten, denn er propagierte nicht nur Sklaverei in den ausgebeuteten Ländern, sondern profitierte durch eigene Investitionen durchaus davon.
Blom beleuchtet die Zeit zwischen 1570 und 1700 als historische Phase, in der, befördert von extremen klimatischen Bedingungen, technische, wirtschaftliche und politische Umwälzungen die Ständegesellschaft zerstörten, alte Machtverhältnisse in Frage stellten und die Diskussion und von Ideen wie Freiheit, Menschenwürde und Menschenrechten erst möglich machten. Zugleich sieht er hier die Wurzeln der Globalisierung und durchaus auch ihrer negativen, von ehrgeizigen, skrupellosen Kaufleuten beförderten Seiten begründet.
Was aber bedeutet das für uns und für eine Welt, die vor der Herausforderung eines sich abzeichnenden Klimawandels erheblicher Art steht? Blom gibt sich hier pessimistisch und zeigt, dass in einer von Unterhaltungselektronik wohlig umhüllten und weitestgehend von unmittelbarer Not befreiten Gesellschaft das Autoritäre rasch an den Platz der errungenen Freiheiten treten kann. Die Zeit von 1570-1700 zeigt, wie wenig es bedarf, um vorhandene Herrschafts- und Machtsysteme in Frage zu stellen und gesellschaftliche Brüche zu beeinflussen.
Für Blom sind die Schwierigkeiten, denen wir uns auf einem gnadenlos ausgebeuteten Planeten in Anbetracht des Klimawandels, der hohen Bevölkerungszahl und einer zunehmend zugespitzten internationalen Lage ungleich größer, die Räder mächtiger, die es zu drehen gilt. Doch birgt sein Buch auch Hoffnung: denn während sich die Menschen um 1570 einer unerklärlich veränderten Welt gegenüber sahen und erst mühsam Wege aus der Krise suchen mussten, verfügen wir über sehr viel mehr Mittel, uns den Herausforderungen unserer Zeit mit Technik, Wissenschaft und politischer Diskussion gemeinsam zu stellen. Darin liegt die Botschaft jener Epoche.
Philipp Blom ist ein aussergewöhnliches Geschichtsbuch gelungen, das eine Fülle von Fakten überaus lebendig zur spannenden Erzählung einer faszinierenden Epoche der menschlichen Geschichte gerinnen lässt, die aktueller ist, als man denken mag. Ein überaus empfehlenswertes Sachbuch für alle, die lebendig erzählte Geschichte zu schätzen wissen.
Danke, Jarg, ich habe es gleich auf meinen Weihnachtswunschzettel geschrieben. Es hört sich sehr interessant an.
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Gern geschehen. Dann drücke ich die Daumen und bin gespannt, wie du es findest, liebe Susanne.
Herzliche Grüsse aus Hamburg nach Berlin von Jarg
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