Es begann alles mit einer Raubgrabung, bei der in Sachsen-Anhalt unter anderem eine rätselhafte Scheibe aus Bronze mit Goldapplikationen gefunden wurde, die zunächst in dunklen Kanälen verschwand und dann Harald Meller, Archäologe und Leiter des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle, in einer konspirativen Polizeiaktion gerettet wurde. Mit der Entdeckung der Himmelsscheibe beginnt nicht nur ein veritabler Krimi rund um
Raubgrabungen und Hehlerei, der schliesslich in einen Gerichtsprozess mündet, bei dem die Echtheit der mindestens 3600 Jahre alten Scheibe endgültig bewiesen wird: zugleich beginnt die Erforschung der ältesten konkreten Darstellung des Himmels, ihrer Herstellung, ihrer Bedeutung und vor allem ihrer Herkunft.
Harald Meller und Kai Michel befassen sich in ihrem Buch zunächst mit der Geschichte der Entdeckung der „Himmelsscheibe“, um dann auf die bisher gewonnenen Erkenntnisse zum Alter der Scheibe, zum Herstellungsprozess, ihrer zwischen nüchterner Wissenschaft und Kult schwankenden Bedeutung in ihrer Zeit einzugehen: die verständliche Beschreibung wissenschaftlicher Analyseinstrumente und Methoden kommt dabei ebenso zum Tragen wie der Bezug auf besser erforschte Kulturen und – was überraschend sein mag – unsere Gegenwart und ihre seltsamen Kulte und Mysterien. Dabei wird deutlich, dass die Scheibe in zeitlichen Abständen von drei verschiedenen Handwerkern mit unterschiedlich ausgebildeten Fähigkeiten bearbeitet und ergänzt worden sein muss. Zugleich entschlüsseln sie die Bedeutung der Symbole auf der Scheibe, die großes astronomisches Wissen offenbaren und stellen sie in zum Teil überraschende Kontexte bezüglich der Zeit, aus der sie stammt. Im Fokus steht dabei die Bedeutung als Kalender und damit auch eine mögliche Verbindung zu den frühen Hochkulturen Mesopotamiens, aber auch die nachweisbare Herkunft des Goldes aus Cornwall.
Meller und Michel beleuchten daraufhin die These, dass die Scheibe einer frühen, bisher nicht bekannten europäischen Hochkultur entstammen könnte, und führen zum Beleg unter anderem eine Reihe geologischer, archäologischer und genetischer Belege an. Darunter sind auch Ausgrabungen aus dem 19. Jahrhundert, deren Ergebnisse verblüffende Verbindungen zur Himmelsscheibe aufweisen und neue Kontexte entstehen lassen. Deutlich wird, dass die sogenannte Aunjetitzer Kultur aus einer Verschmelzung der Glockenbecherkultur mit den Schnurkeramikern entstanden sein könnte, über weitreichende Verbindungen nach Cornwall und in den Orient verfügt hat und seine Fürsten unter riesigen Grabhügeln beisetzte. Dabei liefern sie auch Belege für einen zweiten Weg zum Staat: nicht nur die aufwändige Landwirtschaft samt Bevölkerungswachstum und daraus resultierender Verwaltung machte die Entstehung von Staaten möglich, sondern auch Wissen und technologische Innovation. Aunjetitz könnte dabei so stark gewesen sein, dass es die Handelsbeziehungen zwischen Nord- und Südeuropa kontrollierte und so nicht nur das Vordringen der Bronzezeit nach Norden verhinderte. Fernhandel, komplexe Verarbeitung von Metallen, eine jederzeit zur Verfügung stehende Armee und hierarchische Gesellschaftsstrukturen kennzeichnen diese vergessene Hochkultur ebenso wie erbliche Königswürde und Menschenopfer.
Zugleich ist das Buch auch ein etwas anderer, kritischer Blick auf die frühen Hochkulturen wie Mesopotamien, deren Errungenschaften und archäologische Artefakte wir gemeinhin bewundern, ohne uns ihre durch extrem hierarchische Gesellschaften verursachten Schattenseiten vor Augen zu führen, die aus Ausbeutung, Armut, Abhängigkeit und Gewalt bestanden. Die Sesshaftwerdung des Menschen ging stets auch mit der Aufgabe individueller Freiheiten einher – und mündete oft in die Macht Einzelner gegenüber den Vielen. Auch wird anhand der Aunjetitzer Kultur greifbar, dass die Geschichte Europas nicht nur eine Geschichte der Ideen und Innovationen war, sondern immer auch von Migration und Verschmelzung befördert und beeinflusst wurde.
Meller und Michel ist ein überaus spannendes Buch über einen spektakulären archäologischen Fund und seine weitreichenden Folgen für unseren heutigen Blick auf die Geschichte Mitteleuropas 2000 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung gelungen, das anschaulich in eine längst versunkene Welt einführt und neugierig macht auf mehr.
Eine hochinteressante Rezension, lieber Jarg: Danke!
LikeLike
Sehr gerne, lieber Pit. Ein feines Wochenende wünscht Dir
Jarg
LikeLike
Pingback: Die Himmelscheibe von Nebra : Der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas / Harald Meller; Kai Michel — Jargs Blog | Die Goldene Landschaft
Das klingt ganz nach einem Buch für mich 🙂 Vielen lieben Dank für die spannende Rezension.
LikeLike
Du wirst es lieben!
Gern geschehen und liebe Grüsse aus dem Norden von
Jarg
LikeGefällt 1 Person
Ich hatte es über die Bücherhallen angelesen und beschlossen, es unbedingt selbst haben zu wollen. Sehr spannend und gut geschrieben. Ich kann deiner Rezension nur zustimmen.
Liebe Grüße
Christiane
LikeGefällt 1 Person
Freut mich, dass ich mit meiner Meinung zu dem Buch nicht allein bin und es hoffentlich die vielen Leserinnen und Leser findet, die es verdient. Eigentlich müsste ich es auch haben wollen … nun ach! Zum Glück kann ich es wieder und wieder ausleihen, da ich ja an der (Ausleih)Quelle sitze!
Liebe Grüsse aus Hamburg nach Hamburg von
Jarg
LikeGefällt 2 Personen
klingt nach einem spannenden Buch!
LikeLike
Oh, das ist es. Mochte es kaum aus der Hand legen.
LikeGefällt 1 Person