Im modernen Leben mit all seiner technischen Unterstützung, den veränderten, industriellen Produktionsbedingungen und der hochverdichteten Arbeitswelt scheint für die Natur und unsere Beziehung zu ihr kein Platz zu sein. Aber ist das vielleicht nur ein Klischee? Ist es wirklich so, dass wir uns bereits so weit von der Natur entfernt haben, unsere Sinne sich so weit zurück entwickelt haben, dass es keinen Weg zurück gibt?
Nick Baker ist auf dem Land aufgewachsen, ist Biologie und geht beruflich als Filmemacher seiner Leidenschaft für die Natur und ihre Erscheinungen nach, hat für die BBC und den Discovery Channel gearbeitet. In „Wild leben!“ nimmt er uns mit auf eine erstaunliche Reise zu uns selbst und unseren verschütteten Sinnen. Baker eröffnet uns einen niedrigschwelligen Weg zu den Sinneserfahrungen, die uns mit etwas Training möglich sind, denn für ihn beginnt die Wildnis direkt vor der Haustür, schließt städtische Räume nicht aus. So lädt er uns ein, sich einfach mal auf eine Wiese zu legen und zu schauen, was vor den eigenen Augen im Gras passiert, oder die Augen auf die Unterscheidung verschiedener Baumarten zu trainieren. Er beschreibt eingehend den Zauber eines Nachtspaziergangs, wenn man eben keine Taschenlampe mitnimmt und sich die dreiviertel Stunde Zeit, nimmt, die die Augen tatsächlich brauchen, um sich an das wenige Restlicht zu gewöhnen. Beim Thema Geräusche führt er uns zum genauen Hinhören, beschreibt aber auch, wie man geräuschlos durch die Wildnis geht.
Sie dachten, als Mensch sei Ihr Geruchsvermögen nichts wert? Auch hier offenbart Baker Möglichkeiten, die verschütteten olfaktorischen Fähigkeiten freizulegen und so Landschaft und ihre Formen förmlich riechen zu können. Gleiches gilt für unseren Geschmackssinn, der mit etwas Vorsicht und Training auch tiefe, nicht letale Naturerfahrungen bereithält. Baker beschreibt dabei eigene Erfahrungen, geht aber auch auf entsprechende Berichte anderer sowie auf die wissenschaftlichen Grundlagen menschlicher und tierischer Wahrnehmung ein.
Das alles steht für Baker unter der Überschrift „Renaturierung des Menschen“ – und es lohnt sich, dem Autor auf diesem weg zu folgen, wenn man die eigene (Um)Welt, wie „natürlich“ sie in unseren Augen auch sein mag, intensiv erfahren und erspüren will. Zugleich ist Bakers Buch ein Plädoyer dafür, die Kraft der Wildnis und des Wilden zu erhalten, den Landverbrauch zu reduzieren und Netzwerke von Biotopen zu schaffen statt einzelner Schutzgebiete. Denn ohne Natur und den Erfahrungsschatz, den sie bietet, ist unser Leben arm und leer.
Ein wunderbares Buch, das lehrt, mit der entsprechenden Geduld zu den eigenen Sinnen zurückzufinden und mit tiefem Naturempfinden belohnt zu werden.