
Über 1600 Titel listet der Online-Buchhändler Amazon beim Stichwort Gehirn auf: die thematische Bandbreite reicht vom Gehirnjogging über Lernforschung, spezifisch weibliche und spezifisch männliche Gehirne, Wahrnehmung, Bewusstsein und Unterbewusstsein bis hin zu anatomischer Detaildarstellung. Aber nur wenige Bücher dürften geneigte Leserinnen und Leser dermaßen begeistern für die komplexe Welt zwischen unseren Ohren wie das neue Buch „Der einarmige Pianist“ des bekannten New Yorker Neurologen Oliver Sacks (u. a. Autor von „Awakenings“), das sich mit dem auf den ersten Blick speziell erscheinenden Thema „Musik und das Gehirn“ auseinandersetzt. Breit spannt Sacks den Bogen zwischen Musikophilie und musikalischen Krampfanfällen, von den hirnphysiologischen Grundlagen von Ohrwürmern bis zu dem bei Musikern keineswegs selbstverständlichen absoluten Gehör, von den erstaunlichen Potentialen von Musiktherapie bis zu den Auswirkungen von Gehirnverletzungen und –erkrankungen auf Musikalität und Musikempfinden, von musikalischer Synästhesie bis zum Thema Musik und Blindheit.
Sacks ist wissenschaftlich augenscheinlich auf der Höhe der Zeit, zitiert neueste Aufsätze und alte Standardwerke ebenso wie er Erkenntnisse darstellt, die erst durch die neuesten bildgebenden Verfahren der Medizin möglich wurden, die dem Gehirn bei seiner Arbeit faktisch zusehen. Dabei verliert Sacks sich nie in wissenschaftlicher Gelehrsamkeit: wie in seinen früheren Bestsellern erzählt er flüssig und packend in bester angelsächsischer Tradition von seinem Thema, anschaulich erläutert durch Beispiele aus seiner Praxis. Er beschäftigt sich mit bekannten Fällen wie dem des britischen Musikers Clive Wearing, der nur noch eine Gedächtnisspanne von wenigen Minuten hat und trotzdem in der Lage ist, einen Chor zu leiten oder Klavier zu spielen.
Man merkt es dem Buch an, dass Sacks selbst leidenschaftlich gern Musik hört und spielt. Auch in seinem mittlerweile 75. Lebensjahr schafft es Sacks, für sein Thema zu begeistern und den Leser nach 397 Seiten um viele Erkenntnisse bereichert und doch staunend zurückzulassen.