„Der Sie glaubenmachen will, es gäbe vorhersehbare Trends und Kräfte. Während das eigentlich alles willkürliche Phänomene sind. Sie wenden Mathematik und andere Disziplinen an, okay. Aber letzten Endes haben Sie es mit einem System zu tun, das außer Kontrolle ist. Hysterie in Hochgeschwinigkeit, Tag für Tag, Minute für Minute. Die Menschen in freien Gesellschaften brauchen die Pathologie des Staates nicht zu fürchten. Wir schaffen unseren eigenen Wahnsinn, unsere eigenen Massenverkrampfungen, angetrieben von Denkmaschinen, über die wir letztlich keine Macht haben. Der Wahnsinn ist meistens kaum zu merken. Er liegt einfach darin, wie wir leben.“ („Cosmopolis“, S. 89)
Der 28jährige skrupellose und gewiefte Finanzjounleur Eric Packer fährt im Jahr 2000 mit seiner verlängerten und technisch hochgerüsteten Limousine samt Leibwächter und Chaffeur durch New York auf dem Weg von seiner Luxuswohnung zum Friseur. Unterwegs begegnet er mehrmals seiner Frau, die er selten sieht, und bespricht sich mit wechselnden Mitarbeitern im Auto, während diffuse Meldungen über eine akzute Bedrohung seiner Sicherheit eingehen. Während der Fahrt wird immer mehr offensichtlich, dass die Stadt im Chaos versinkt. Und auch der japanische Yen, auf dessen Kurs Packer milliardenschwer gewettet hat, verhält sich nicht so, wie es die Analysen erwarten liessen. Packer, gefangen zwischen aberwitzig schnellen Datenanalysen, flüchtigem Sex und wachsendem Chaos, verliert sich Packer wechselweise in philosophischen Erwägungen zu Geld, Macht, Markt und Erfolg und plötzlich erforderlichem physischem Aktionismus …
Liest man Don DeLillos 2003 erschienenen Roman „Cosmopolis“ heute, so könnte man in ihm eine Vorahnung der Finanzkrise von 2008 sehen. Böse, mit schwarzem Humor und klugen Reflexionen begleitet DeLillo seinen eiskalten Protagonisten bis zum Ende. Packer, der an die Logik der Märkte glaubt und neben seinen analytischen Fähigkeiten ganz auf ausgefeilte Analysetechnik setzt, sieht die Finanzmärkte zusammenbrechen und erkennt fasziniert und gleichgültig zugleich, wie die unmenschliche Beschleunigung der Datenströme und Transaktionen die Welt in rasender Geschwindigkeit ins Chaos und in selbst ins Abseits spült.
DeLillo schreibt mit scharfem, sezierendem Blick und versetzt sich tief in die Seele eines machtvollen Finanzmagnaten, der von der chaotischen, unprognostizierbaren Wirklichkeit der Märkte eingeholt wird. Die von liberaliserten Märkten bestimmte Gesellschaft verliert die Freiheit, die sie als Mantra vor sich herträgt. Ein verstörender, nicht leicht zu lesender, aber lohnender Roman von immer noch hoher Aktualität. DeLillo legt den Finger in die Wunde analysiert kühl eine vom entfesselten Finanzkapitalismus geprägte Welt.
klingt sehr interessant 🙂 muss ich mir auf jeden Fall merken…
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Ist nicht einfach zu lesen, lohnt sich aber sehr – und ist leider immer noch aktuell!
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„Cosmopolis“ war mein erster Don DeLillo, aber sicher nicht mein letzter. Erstaunliche Weitsicht hat er, der Mann – und eine gute Einfühlung in die gestörte Weltsicht von Finanzmagnaten …
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Danke für die Rezension, mich wundert auch, dass deLillo immer noch schreibt, schreibsüchtig wohl 😉 Ich las vor nicht so langer Zeit „Weißes Rauschen“, das mir auch gut gefiel.
Liebe Grüße vom stürmischen Meer
Klausbernd
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