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Bordsteinkönig : meine wilde Jugend auf St. Pauli / Michel Ruge

Er brauchte Gewalt, sie war wie eine Bestätigung für ihn. Allmählich wurde sie für ihn zu einer Droge. Es beginnt ganz langsam, wie bei jeder Sucht. Man wird angezogen von einem romantischen, naiven Bild des Straßenkampfes und der Männlichkeit. Am Ende zerstört einen die eigene Sehnsucht. (S. 266)

Wer in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren in Hamburg in den sogenannten „besseren“ Stadtteilen aufwuchs, kam meistens wenig in Berührung mit der dem Kiez und den Jugendlichen, die in den düsteren Vierteln aufwuchsen. Manchmal sah man in der Schule vielleicht einen, der eine Bomberjacke trug und trotz seiner kiezfernen Sozialisation zu irgendeiner der sich zunehmend bildenden Jugendgangs gehörte. Aber das war die Ausnahme. Man ahnte dumpf, dass etwa der Stadtteil St. Pauli dabei war, sich zum sozialen Brennpunkt zu entwickeln. Den Fischmarkt und die Landungsbrücken besuchte man durchaus … aber dahinter war Niemandsland, ein Gebiet, dass man als Teenager nicht unebdingt betrat. So jedenfalls ging es mir als angehenden Erwachsenen, der erst später in seinen frühen Zwanzigern die Freuden großstädtischen Partynachtlebens auszukosten begann.

Wer dort aufwuchs, dürfte in der Regel keine einfache Sozialisation und in der Regeln auch vergleichsweise wenig Chancen gehabt haben. Michel Ruge wurde 1969 in St. Pauli geboren. Seine sehr junge Mutter war Kellnerin, sein Vater betrieb drei Bordelle.

In „Der Bordsteinkönig“ berichtet er auf ebenso eindringliche wie direkte Art von seinem Aufwachsen in Hamburgs Vergnügungsviertel, dass zu einem zunehmend prekären Pflaster wurde. Die alten Kiezkönige mit ihren traditierten Vorstellungen von Männerehre wurden nach und nach abgelöst von organisierten Gewalttätern, die Drogenhandel, Prositution und Geldwäsche mit roher Gewalt beherrschen wollten und dabei mit ihren Gegnern mehr als brutal umgingen.

Michel, der früh mit Kampfsport beginnt und bald einer multikulturellen Gang beitritt, wächst in diesem Spannungsfeld auf. Er fühlt sich angezogen von der Halbwelt aus Frauen, Kiezkönigen und Zuhältern. Schon der 12jährige träumt von der möglichen Kiezkarriere, betreibt wenig später Kampfsport, zieht mit sechszehn Jahren zuhause aus und findet sich in einer der ersten Jugendgangs wieder mit ihrem eigenen Ehrenkodex, ihren Machtdemonstrationen, ihren Kämpfen gegeneinander oder gemeinsam gegen die Polizei.

St. Pauli muss damals ein eigenartiges Pflaster gewesen sein, ein Netz, in dem auch die Polizei härter auftrat, bisweilen gar in Korruption verstrickt. Ruge erlebt den Wandel von St. Pauli, erlebt, wie brutale Gewalt immer mehr den rauen Respekt ablöst, den die Halbwelt früher noch untereinander hegte. Drogensucht mit all ihren Folgen nimmt Einfluss auf die Jugendlichen, mit denen er aufwächst, so wie die Gewalt, die macht, die daraus erwachsen kann, für viele zum Selbstzweck, ja zur Sucht wird.

Trotz der rauen Schule, durch die Michel geht, bewahrt er sich ein Mindestmaß an Selbstreflexion, ja Gefühl, obwohl er eigentlich davon träumt, einer der ganz harten zu werden. Letztlich trägt dabei auch sein Idol Bruce Lee bei, dessen ihm aus den Filmen bekannten Wertvorstellungen sich bald nicht mehr mit der Wirklichkeit in Deckung bringen lassen, in der Ruge erwachsen wird. Er sieht, wie Freudne an Drogen zugrunde gehen, ins Gefängnis kommen, an ihrer gewalttätigkeit zerbrechen. Und irgendwann beginnt sich etwas in ihm zu ändern, nimmt er einen anderen als den ihm scheinbar vorgezeichneten Weg.

Heute ist er nach Stationen als Türsteher und Personenschützer Schauspieler und Kampfkünstler, der auch eine Escrima Schule betreibt und über Zivilcourage referiert. Sein Buch über St. Pauli zeigt einen tiefen Einblick in den Alltag auf St. Pauli in den 1980er Jahren. Ruge erzählt dabei aus der Ich-perspektive in einer zuweilen sehr direkten, authentischen Sprache, ist ehrlich, selbstkritisch und dabei auch voller rückblickender Empathie für seine damaligen Gefährten und Bekannten. Man kann sich lebhaft vorstellen, welchen Verlockungen und Gefahren ein Kind in diesem Milleu ausgesetzt war.

Ruge wird dabei niemals abschätzig gegenüber den Menschen, die er in diesem Buch Revie passieren lässt. Im Gegenteil: es ist deutlich der Respekt zu spüren, den er gegenüber jedem noch so krummen Lebensweg hat und das Gespür dafür, dass hinter einem krummen Lebensweg immer auch ein menschliches Schicksal verborgen ist mit all seinen Verwicklungen. So verschaftt er uns ein lebensnahes Bild der Menschen und ihres Alltags in einem Stadtteil, der lange zu den sozialen Brennpunkten Hamburgs gehörte und auch heute noch manche dunkle Seite hat.

4 Kommentare zu “Bordsteinkönig : meine wilde Jugend auf St. Pauli / Michel Ruge

  1. Solche „Überlebenden“-Berichte finde ich meist interessant, weil sie aus dem Impuls entstehen, das gelebte zu verarbeiten. Also nicht so sehr ein Autor aus Berufung, sondern ein Mensch mit einer Geschichte, die raus muss.
    Wenn dann ein zweites Buch folgt, ist es oft lang nicht so gut wie das erste. Kunst kommt nicht von können, sondern von müssen.

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    • Der“Bordsteinkoenig“ ist schon ein besonderes Buch, weil er nicht aus dem Impuls heraus, um jeden Preis einen Bestseller zu schaffen, entstanden zu sein scheint. Insofern sehe ich einem potentiellen zweiten Band gelassen entgegen.
      Aber Du hast natürlich recht: oft genug werden die Erwartungen enttäuscht, die man nach einer fulminanten Lektüre an das nächste Buch des Autors hat.

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