Dem Mut ist keine Gefahr gewachsen. Ein abenteuerliches Leben / Rüdiger Nehberg

„Irgendwie bin ich ein Glückspilz! Weil ich noch immer lebe. Nicht nur, weil ich das Glück hatte, mittlerweile 22 bewaffnete Überfälle überlebt zu haben. Sondern vor allem, weil ich als Ex-Bäcker laut Statistik der Lebensversicherer mit 68 meinen Teigschaber längst hätte aus der Hand legen müssen. Und weil ich so viel erlebt habe, dass es für drei Leben ausreichen würde. (Rüdiger Nehberg)“

Ab meinem 13. Lebensjahr habe ich die Bücher von Rüdiger Nehberg verschlungen und seinen abenteuerlichen Lebensweg vom Konditor zum Abenteurer, Survivalexperten und Menschrechtler mit einer Mischung von Faszination und Bewunderung verfolgt. „Drei Mann, ein Boot der blaue Nil“ war meine Einstiegsdroge: Nehberg wusste überaus spannend und fesselnd zu erzählen von seinen Reisen und Erfahrungen, später dann von seinen spektakulären Aktionen wie den Atlantiküberquerungen in Tretboot, Floss und Baum, seinem Einsatz im Urwald Brasiliens für indigene Völker.

Kurz vor seinem Tod im Frühjahr 2020 konnte der 1935 im Sauerland geborene Nehberg noch Weiterlesen

Der Honigbus / Meredith May

Als Fünfjährige erlebt die Autorin Meredith May zusammen mit ihrem kleineren Bruder die Trennung ihrer Eltern: ihre Mutter zieht nach einem letzten dramatischen Streit mit ihnen aus dem amerikanischen Osten nach Big Sur, Kalifornien zu ihren Eltern. Ab diesem Zeitpunkt kapselt sie sich von ihren Kindern ab, zieht sich komplett zurück in ihr Zimmer und ihre Depression und überlässt Meredith und Matt sich selbst und der wenig Weiterlesen

Allein in der Wand – Free Solo / Alex Honnold mit David Roberts

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht im Bezug auf Klettern, hohe Berge und Schwindelfreiheit: meine seit jeher vorhandene Höhenangst hat mich zwar nicht davon abgehalten, mir bei langen einsamen Rucksack-Wanderungen einige ausgesetzte Wege in den Alpen zu erarbeiten oder mich mittlerweile komplett angstfrei durch Kletterparks zu bewegen. Aber es gibt Grenzen, auch wenn ich offenbar durchaus in der Lage bin, Klettersteige neben Abgründen durchzusteigen wie dieses Jahr in den Vogesen. Mit beiden Händen an der im Feld verankerten Eisenstande natürlich. Weit hinter den anderen.

Bouldern geht und Klettern in einer Kletterhalle könnte ich mir vielleicht noch vorstellen – Klettern am Fels dagegen scheint mit außerhalb meiner Möglichkeiten zu liegen, selbst wenn mich jemand professionell am Seil sichern würde. Klettern am Fels ohne Seil, wie es Alex Honnold macht, ist Science Fiction für mich. Trotzdem bin ich wie auch bei anderen Extremsportlern fasziniert darüber, was Alex Honnold tut – und so lag es nahe, nach dem überaus beeindruckenden, zu recht mehrfach ausgezeichneten Film „Free Solo“, der seine Besteigung der 1000 m hohen Wand des El Capitan ohne Weiterlesen

Seele auf Eis : Ein Bankräuber rechnet ab / Reiner Laux

Reiner Laux raubte zwischen 1985 und 1995 insgesamt 13 deutsche Banken aus und wurde schliesslich nach einer Denunziation in Portugal festgenommen. Der in der Presse als „Zorro, der Gentleman-Bankräuber firmierende Laux sass zunächst in Portugal in einer überfüllten Gemeinschaftszelle und danach in Deutschland insgesamt fast acht Jahre Haft ab. In „Seele auf Eis“ berichtet er über seine zum teil schockierenden Erfahrungen im Gefängnisalltag.

Laux, der sich während seiner Haft weitestgehend Weiterlesen

Endurance : Mein Jahr im Weltall / Scott Kelly

Der 1964 geborene Scott Kelly ist ein schlechter Schüler und weiß zunächst wenig mit seinem Leben anzufangen: einzig bei seinen Einsätzen als Rettungssanitäter während der Highschool findet er Befriedigung und tiefe Motivation, schafft es aber nicht, sich mit entsprechenden Leistungen in der Schule für ein Studium zu qualifizieren. Schule langweilt ihn – und auch das Studium scheint er nicht durchstehen zu können, da er sich nicht auf den Unterricht konzentrieren kann. Heute sagt er, dass er vermutlich ADS hatte.

Erst als er Tom Wolfes „Die Helden der Nation“ liest, ändert sich etwas für ihn: das legendäre, 1983 verfilmte Buch über die amerikanischen Testpiloten, die in einer langen Kette von Erfolgen und Mißerfolgen nach dem Zweiten Weltkrieg Hochgeschwindigkeits- und Raketenflugzeuge testen und schliesslich das Mercury-Programm zum Erfolg führen, ändert etwas in ihm. Von diesem Tag an Weiterlesen

Grosse Freiheit Mitte : Mein wilder Trip durchs Berliner Nachtleben / Michel Ruge

Den „Bordsteinkönig“ (s. das Buch des Autors von 2013) Michel Ruge, aufgewachsen in einem Stundenhotel in Hamburg als Soh eines Bordellbesitzers und einer Kellnerin, zieht es nach seinen wilden Jugendjahren auf St. Pauli unter anderem in einer Gang und der erfolgreich abgeschlossenen Schauspielausbildung in den späten 1990er Jahren mit der Hoffnung nach Berlin, dort als Schauspieler reüssieren zu können. Doch das Berlin der 1990er und frühen 200er Jahre erweist sich als das wesentlich Weiterlesen

Der Ruf der Stille : Die Geschichte eines Mannes, der 27 Jahre in den Wäldern verschwand / Michael Finkel

Der 20jährige Chris Knight, Mitglied einer zurückgezogen im US-Bundesstaat Maine lebenden Familie, fährt mit seinem Auto in einen Wald, lässt es stehen und baut sich an einer unzugänglichen, aber nicht weit von der Zivilisation entfernten Stelle ein Lager. Dort lebt er über 27 Jahre im Sommer wie im Winter, meidet jeden Kontakt mit Menschen, beschafft sich Lebensmittel und andere Alltagsnotwendigkeiten durch unzählige, akribisch durchgeführte Einbrüche in Blockhütten und Ferienlagern und entgeht manchmal durch Krankheit oder Kälte nur knapp dem Tod. Für die Anwohner ist er ein Phantom, bis ihn eines Tages ein Polizist fasst und die Welt von Chris sich nach Jahrzehnten selbst bestimmter Einsamkeit radikal ändert: in Haft wird er ständig kontrolliert, muss mit anderen in einer Zelle schlafen und sich psychologischen Untersuchungen stellen. Dazu kommt die mediale Aufmerksamkeit und der letztlich drohende Prozess wegen etwa 1000 Einbrüchen. Am liebsten würde er in sein Lager zurückkehren und wieder zu seinem Glück zurückfinden.

Mit beharrlicher Behutsamkeit schafft es der amerikanische Journalist Michael Fink, einen fragil erscheinenden Kontakt zu Chris Knight aufzunehmen. Er trifft ihn mehrfach und sucht das Gespräch mit seinem Umfeld und den zum Teil faszinierten, zum Teil verstörten Anwohnern. Auch wenn Knight schwer zugänglich und ein Teil seiner Motivation Finkel verschlossen bleibt, entsteht so nach und nach das Porträt eines Mannes, der ausserhalb der Zivilisation lebt und doch nur durch sie – verbunden mit seinen Raubzügen und einer hohen Bereitschaft, allem Unbill seines Lebens zu trotzen – am Leben bleibt. Am Ende gelingt ihm ein empathisches, äußerst bewegendes Porträt des Einsiedlers, in das er auch kulturgeschichtliche Betrachtungen zum Einsiedlertum an sich einfliessen lässt. Nach und nach wird trotz manchem Befremden gegenüber diesem extremen Leben nicht nur sichtbar, was Chris Knight durch seine Entscheidung für ein Leben in Stille und Einsamkeit suchte, sondern auch, was uns verloren gegangen ist.

Wer Jon Krakauers Buch „In die Wildnis“ schätzt, wird sich von Michael Finkels Buch über ein einsames, aber offensichtlich glückliches Leben in Stille und Abgeschiedenheit rasch fesseln lassen.

Ein Herz für Kängurus : Beutelweise Glück in Australien / Chris Barnes

Von aussen betrachtet mögen die Entbehrungen und Strapazen übermäßig hart erscheinen, denen sich der Australier Chris Barns seit vielen Jahren im Outback aussetzt, um durch Autounfälle, Jagd oder anderes Unbill verwaiste Kängurujungtiere zu retten und auf ein Leben in der Wildnis vorzubereiten. Doch wenn man die eng mit einer frühen Liebe zu Tieren und der Natur verbundene Lebensgeschichte des mittlerweile 44jährigen Tierpflegers liest, spürt man rasch die große Faszination, die Kängurus auf ihn ausüben, und das tiefe Mitgefühl mit den bei Unfällen zurückgelassenen Jungtiere, die bei dieser Tierart besonders hilfsbedürftig sind.

Tatsächlich hat Barns in einem Land, in denen man Kängurus nicht selten als Weiterlesen

Penguin Bloom: Der kleine Vogel, der unsere Familie rettete / Cameron Bloom ; Bradley Trevor Greive

Sie sind eine glückliche Familie, die Blooms aus Australien. Der Fotograf Cameron und die Bäckerin und Krankenschwester Sam haben sich früh kennen- und lieben gelernt, reisten viel zusammen um die Welt, haben irgendwann geheiratet und drei Jungs bekommen. Endlich sind die Jungs groß genug, um an alte Leidenschaften anzuknüpfen und mit ihnen auf eine weite Reise zu gehen. Doch in Thailand passiert das Unglück: Sam Weiterlesen

Der Geschmack von Laub und Erde : Wie ich versuchte, als Tier zu leben / Charles Forster

Wenn wir alle oft genug über Grenzen hinwegpendeln, wird die Welt vielleicht doch nicht auseinanderfallen. (S. 95)

Der britische Professor für Ethik und Rechtsmedizin, zugleich Tierarzt, Anwalt und Teilnehmer am Marathon de Sable, möchte wissen, wie Tiere empfinden, wie sie Leben und ihre Welt wahrnehmen. Um sich der Gedanken-, Gefühls- und Erlebniswelt von Tieren anzunähern, trifft er den Entschluss für ein kühnes Experiment: er wird versuchen, ihr Leben so genau wie möglich nachzuahmen. Die Tierarten, die er sich dafür aussucht, können unterschiedlicher nicht sein: Dachs, Otter, Fuchs, Rothirsch und Mauersegler unterscheiden sich in ihren Lebensweisen und Habitaten weit voneinander.

Es beunruhigt mich, dass ich in der Welt womöglich ganz allein bin: dass das Andere völlig unzugänglich ist. […] Wenn ich eine Beziehung zu einem nicht menschlichen Lebewesen aufbauen kann, besteht Weiterlesen

Der Fuchs in der Stadt / Lutz Artmann

Mit der Veränderung der Landschaft durch die industrialisierte Landwirtschaft, Flurbereinigung und Flächenversiegelung ging nicht nur die Vielfalt an Flora und Fauna vielerorts verloren: die immer noch idealisierten ländlichen Räume gleichen mittlerweile nicht selten Agrarwüsten. Zeitgleich fanden und finden erstaunlicherweise immer mehr wilde Tiere ihr Auskommen in der Stadt, darunter auch der Fuchs.

Lutz Artmann geht in seinem Buch dieser Besiedlung der Stadt durch den Fuchs nach, beschreibt Weiterlesen

Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur / Andrea Wulf

Humboldt trug die Daten zusammen, die er brauchte, um die Natur als einheitliches Ganzes zu begreifen. Wenn sie ein Netz des Lebens war, reichte es nicht, sie mit den Augen eines Botanikers, eines Geologen oder einen Zoologen zu betrachten. Er benötigte Informationen von überall, sagte Humboldt, weil „Beobachtungen aus den verschiedenen Erdstrichen miteinander verglichen werden“ müssen. Er trug so viele Ergebnisse zusammen und stellte so viele Fragen, dass einige Leute ihn für dumm hielten, weil er sich nach „Selbstverständlichkeiten“ erkundigte. Einer der Führer berichtete, Humboldts Jackentaschen waren wie die eines kleinen Jungen – vollgestopft mit Pflanzen, Steinen und Papierschnipseln. Nichts war zu klein oder zu unbedeutend, um nicht untersucht zu werden. Alles hatte seinen Platz in dem großen Teppich, den das Leben knüpfte. (S. 125)

Die Bedeutung Alexander von Humboldts für unser heutiges Verständnis der Natur kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Der Kosmopolit Humboldt, der vielleicht einer der letzten Universalgelehrten und zu seiner Zeit weltberühmt und global vernetzt war, ist trotzdem heutzutage weitgehend vergessen. Die 1972 in Indien geborene, in Deutschland aufgewachsene und in Großbritannien lebende Kulturwissenschaftlerin Andrea Wulf legt mit ihrem Buch „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ mehr als eine Biografie vor.

Ihr in fünf Teile gegliedertes Buch folgt den Lebensspuren Humboldts, beleuchtet dabei seine frühe Faszination für Weiterlesen

Sturmwarnung : Das aufregende Leben von Kapitän Schwandt / Jürgen Schwandt. Stefan Kruecken.

In jeder Stunde, in jeder Minute sieht die See anders aus. Sie lebt, sie ist immer anders, mal grün, mal grau, mal strahlend blau, sie kräuselt sich, sie stürmt, sie schmeichelt einem oder sie fordert den Seemann zum Kampf. Der Wind wird ein Freund und kann der Feind sein, ständig wechseln die Formationen der Wolken. Die Natur ist ganz nah, man bewegt sich darin wie ein Elementarteilchen, und jeder, der eine Seele in sich findet, spürt, Teil eines großen Ganzen zu sein. Und er empfindet großen Respekt vor Weiterlesen

Die rote Olivetti: Mein ziemlich wildes Leben zwischen Bielefeld, Havanna und dem Himalaja / Helge Timmerberg

1970. Der 18jährige Helge Timmerberg zieht sich in einer Londoner Wohnung LSD rein, verwandelt im Rausch unzählige Plastikbecher in psychedelische Skulpturen und bricht am Tag darauf aus einer sauber rauchgeschwärzten Bude nach Indien auf. Jimi Hendrix ist in der gleichen Nacht zwei Häuser weiter gestorben – was im weiteren Fortgang der Reise nach Indien nicht ohne Folgen bleibt, glaubt der bedröhnte Timmerberg doch nach der Begegnung mit einem belgischen Ex-Professor und LSD-Adepten bald, das Hendrix Seele in ihm wiedergeboren wurde. Über viele Tausend Kilometer bleibt das so, bis ihm in einem Ashram an den Füßen des Himalaja eine Stimme zuflüstert: „Geh nach Hause und werde Journalist“.

36 Jahre und viele Reportagen und Bücher später legt Timmerberg, dieser furiose Reisereporter mit dem Nimbus des ewigen Hippies, sein Leben Revue passieren in seiner ganzen Bandbreite zwischen den Untiefen des Lokaljournalismus, burlesken Erfahrungen als Veggierestaurantbesitzer, seinen Erfolgen als unkonventioneller Reporter für Weiterlesen

Dankbarkeit / Oliver Sacks

Oliver Sacks, der im vergangenen Jahr verstarb, hat in den zwei Jahren vor seinem aufgrund der Schwere seiner Krankheit absehbaren Tod vier Essays geschrieben, die sich mit dem Altern, der Krankheit und dem Tod, zugleich aber mit der Faszination für Weiterlesen

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war : Roman (Alle Toten fliegen hoch; 2) / Joachim Meyerhoff

Es kommt mir mehr und mehr so vor, als wäre die Vergangenheit ein noch viel ungesicherterer, weniger verbürgter Ort als die Zukunft. Das, was hinter mir liegt, soll das Gesicherte sein, das Abgeschlossene, das Gewesene, das nur darauf wartet, erzählt zu werden, und das vor mir soll die sogenannte zu gestaltende Zukunft sein?

Was, wenn ich auch meine Vergangenheit gestalten muss? Was, wenn Weiterlesen

H wie Habicht / Helen MacDonald. Aus dem Engl. von Ulrike Kretschmer

Jetzt war Dad nicht mehr da, und allmählich begann ich zu begreifen, wie Vergänglichkeit mit Dingen wie einer Halo-Erscheinung am Himmel zusammenhängt. Dass die Welt voller Zeichen und Wunder ist, die kommen und gehen. Wenn wir Glück haben, sehen wir sie. Einmal, zweimal. Und dann vielleicht nie wieder. (S. 103)

Schon als eher introvertiertes, naturverbundenes Kind hat Helen MacDonald, Tochter eine bekannten englischen Fotografen, den tiefen Wunsch, Falknerin zu werden, liest früh entsprechende Bücher, lernt die entsprechende Fachsprache und fliegt tatsächlich eines Tages ihre ersten Falken. Durch ihren Vater, der sie darin bestärkt, lernt sie, zu beobachten, Geduld zu haben und auf sich selbst zu vertrauen. Doch dann Weiterlesen

On the move : Mein Leben / Oliver Sacks

And now, weak, short of breath, my once-firm muscles melted away by cancer, I find my thoughts, increasingly, not on the supernatural or spiritual, but on what is meant by living a good and worthwhile life — achieving a sense of peace within oneself. I find my thoughts drifting to the Sabbath, the day of rest, the seventh day of the week, and perhaps the seventh day of one’s life as well, when one can feel that one’s work is done, and one may, in good conscience, rest. [Quelle: Sabbath. In: The New York Times. Sunday Review, 14. August 2015

Was habe ich seine Bücher verschlungen! Der britische Neurologe, Schriftsteller und Essayist Oliver Sacks, der am 30. August verstarb, vermochte mit seinen Fallgeschichten wie kaum ein anderer zeitgenössischer Autor das Interesse an den Hintergründen komplizierter Krankheitsbilder zu wecken und an der Neurologie im Allgemeinen. Im Fokus standen dabei neurologisch bedingte Erkrankungen, die sich in Wahrnehmungsstörungen, besonderen Fähigkeiten oder psychischen Beeinträchtigungen manifestierten. Seine anekdotenhaften Essays waren dabei spürbar von ungemein großer wissenschaftlicher Neugier, zugleich aber auch Weiterlesen

Nimm mich mit nach Gestern … / Renate Delfs und Rike Schmid

Renate Delfs, die 1925 geborene Flensburger Volksschauspielerin, und die Schauspielerin und Autorin Rike Schmidt (Jahrgang 1979) lernen sich im Jahr 1999 bei Dreharbeiten zu der Fernsehserie „Aus gutem Haus“ kennen. Die beiden Frauen werden trotz des großen Altersunterschiedes schnell zu Freundinnen und überbrücken räumliche Distanzen mit einem bis in die Gegenwart geführten Briefwechsel. Als die Zeit des Nationalsozialismus zur Sprache kommt, spürt Weiterlesen

Letters of Note – Briefe, die die Welt bedeuten

Wir leben in flüchtigen Zeiten: Menschen kommunizieren in Windeseile per E-Mail, SMS oder WhatsApp, liken sich auf Facebook, vervollkommnen die Kunst, in 120 Zeichen alles (oder nichts) zu sagen und sind scheinbar permanent online, verfügbar und live dabei. Fraglich ist, was davon bleibt. Alles, mag der kritische Datenschützer sagen, denn wir hinterlassen unzählige digitale Spuren, denen man oft sehr lange folgen kann ; nichts, könnte eine schwerer philosophische Einwand sein, denn durch die schiere Masse geht alles im Rauschen unter. Auch technisch gesehen stellt sich die Frage, ob man in einhundert oder zweihundert Jahren noch in der Lage sein wird, im „Netz“ die eine besondere E-Mail eines Autors an seinen Verleger oder eines Kindes an einen Astronauten zu finden, die so besonders ist, dass sie sich aus der Masse des Kommunizierten heraushebt.

Ein Grund, weshalb Briefe besonders sind und für zumindest jene, die wie ich noch in analogen Zeiten aufgewachsen sind, manifestierte Aussagen bedeuten: etwas, dass niedergeschrieben, abgeschickt und nicht mehr revidierbar ist, dass eine Wirkung hat und etwas behauptet von dem, was gesagt wurde. Anders als beispielsweise ein Beitrag auf Twitter, den ich löschen, oder ein Posting auf Facebook, dass ich nachträglich bis zur Unkenntlichkeit verändern und bearbeiten kann.

Der britische Autor und Blogger Shaun Usher hat auf Weiterlesen

Wörterbuch einer verlorenen Welt / Alba Arikha

Mein Vater kommt von weit her.
Ich kann es nicht sehen oder erklären, aber ich spüre es. An diesem Ort gibt es Worte für Dinge, die nicht mehr existieren.
Irgendwie haben Spuren davon es geschafft, in mein Bewußtsein zu sickern. Es ist Teil meines Fundamentes geworden, wie Mörtel bei einem im Bau befindlichen Haus. Beinahe schmecke ich die Atmosphäre auf meiner Zungenspitze.
Wenn mein Vater geht, wird mit ihm jene Atmosphäre verschwinden.
Werden mit mir die Reste verschwinden?
Wann wird mein Haus komplett sein?
Ich frage mich, ob man das jemals selber weiß?
(S. 110-111)

Eine Jugend im Paris der 1980er Jahre zur Musik von Grace Jones, den Talking Heads, Serge Gainsbourg. Miniröcke, Parties, Zigaretten. Ihr Vater, der bekannte Maler Avigdor Arikha (1929-2010), der all das Weiterlesen

Schweigen tut weh : Eine deutsche Familiengeschichte / Alexandra Senfft

Die Gräuel der Nazizeit, verbunden mit Konzentrationslagern, Judenverfolgung und Vernichtung und dem von den Deutsche vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkrieg mit Millionen Toten wurden bis weit in die Nachkriegszeit gerne unter den Teppich gekehrt. Alte Nazis stiegen in der jungen, boomenden Bundesrepublik durch lang gepflegte Seilschaften wieder auf, über den Krieg wurde kaum gesprochen und von der Judenvernichtung hatte angeblich niemand gewusst. So wie der öffentliche Umgang mit der dunklen Zeit von 1933-1945 war auch der private Umgang damit nicht selten von Schweigen, Verdrängung und Beschönigung gekennzeichnet, obwohl schon in den 1950er Jahren wie leider auch wieder heute in Anbetracht unbelehrbarer Neonazis, nationalfetischistischer Europaverächter und geschichtsvergessener Rechtsradikaler Brechts Worte aus dem Epilog des Arturo Ui galten und gelten: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“.

In „Schweigen tut weh“ berichtet die Alexandra Senfft vom Umgang ihrer Familie mit den Verbrechen ihres Großvaters Hanns Ludin, der während des Zweiten Weltkrieges als SA-Gruppenführer und Repräsentant des Deutschen Reiches in Slowenien für die Deportation Weiterlesen

Mir fehlt ein Tag zwischen Sonntag und Montag / Katrin Bauerfeind

Viele Eltern kennen das vielleicht: abends ist man so geschafft, dass man aus der vom Stadtbibliotheksbesuch mitgebrachten DVD-Auswahl konsequent alles aussortiert, was länger ist als 90 Minuten. Das ist schade, denn dadurch verpasst man einige ausgesprochen sehenswerte Filme – und auch so manche interessante Fernsehsendung, die dieses arg auf den Hund gekommene Medium durchaus zu bieten hat. Wie zum Beispiel das öfter gegen 21.30 Uhr auf 3Sat zu sehende Magazin Bauerfeind von Katrin Bauerfeind – eine Zeit, bei der wir durchaus schon intensiv an die Zahnbürste denken, wenn wir nicht einen der 90minütigen Filme ausgesucht haben und in den letzten 15 Minuten stecken.

Was hat nun dieser fehelnde Tag damit zu tun? Viel, denn Weiterlesen

Die Märchentante, der Sultan, mein Harem und ich / Helge Timmerberg

Reichtum ist auch nur ein Sandkasten auf dem Spielplatz unserer Träume, und das Wesen der Träume ist, dass wir sie verliren, wenn sie in Erfüllung gehen. (S. 251)

Als junger Mann erfährt Helge Timmerberg von einem nur lose überlieferten Märchen namens „Die Perlenkaravane“ und ist fasziniert sowohl von der Geschichte als auch von der scheinbaren Entdeckerin, Elsa Sophia von Kamphoevener, die nach eigenen Angaben in jungen Jahren als Mann verkleidet durch das osmanische Reich zog und vom Märchenerzähler Mazarlyk-dji Fehim Bey den Titel eines Maddah (Märchenerzählers) erhielt. Er und zwei seiner Freunde sind wie elektrisiert und planen fortan über viele Jahre einen Film über Kamhoevener und das Märchen, für den sie sogar namhafte Filmschaffende begeistern und Geld an Land ziehen können.

Fast dreissig Jahre wird Timmerberg auch und immer wieder in Sachen Kamphoevener reisen und sich dabei nicht nur Weiterlesen

Fuchs ganz nah : die Geschichte einer Freundschaft / Klaus Echle ; Anna Rummel

Füchse habe ich schon immer als schöne und faszinierende Tiere empfunden und mich immer gefreut, wenn ich in freier Wildbahn mal eines der scheuen Tiere entdecken konnte. Füchse sind ja mittlerweile nicht nur in Wald und Flur, sondern auch in den Städten anzutreffen, da das Nahrungsangebot dort für sie oft reichhaltiger und attraktiver ist als in der durch die Landwirtschaft verkargten Landschaft ausserhalb menschlicher Ansiedlungen.

Die Forstwirtin Anna Rummel wird an einem schönen Maiabend auf ihrem Hochsitz von einem Weiterlesen

Bordsteinkönig : meine wilde Jugend auf St. Pauli / Michel Ruge

Er brauchte Gewalt, sie war wie eine Bestätigung für ihn. Allmählich wurde sie für ihn zu einer Droge. Es beginnt ganz langsam, wie bei jeder Sucht. Man wird angezogen von einem romantischen, naiven Bild des Straßenkampfes und der Männlichkeit. Am Ende zerstört einen die eigene Sehnsucht. (S. 266)

Wer in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren in Hamburg in den sogenannten „besseren“ Stadtteilen aufwuchs, kam meistens wenig in Berührung mit der dem Kiez und den Jugendlichen, die in den düsteren Vierteln aufwuchsen. Manchmal sah man in der Schule vielleicht einen, der eine Bomberjacke trug und trotz seiner kiezfernen Sozialisation zu irgendeiner der sich zunehmend bildenden Jugendgangs gehörte. Aber das war die Ausnahme. Man ahnte dumpf, dass etwa der Stadtteil St. Pauli dabei war, sich zum sozialen Brennpunkt zu entwickeln. Den Fischmarkt und die Landungsbrücken besuchte man durchaus … aber dahinter war Niemandsland, ein Gebiet, dass man als Teenager nicht unebdingt betrat. So jedenfalls ging es mir als angehenden Erwachsenen, der erst später in seinen frühen Zwanzigern die Freuden großstädtischen Partynachtlebens auszukosten begann.

Wer dort aufwuchs, dürfte in der Regel keine einfache Sozialisation und in der Regeln auch vergleichsweise wenig Chancen gehabt haben. Michel Ruge wurde 1969 in St. Pauli geboren. Seine sehr junge Mutter war Kellnerin, sein Vater betrieb drei Bordelle.

In „Der Bordsteinkönig“ berichtet er auf ebenso eindringliche wie Weiterlesen

Wenn ich Dich umarme, hab keine Angst : eine wahre Geschichte / Fulvio Ervas

Die ganze Welt dringt ungehindert in Andrea ein, wie ein bergab rollender Stein, wie eine Lawine. Andrea hat keine Abwehr, keine Barriere, er saugt alles auf wie ein Schwamm, und man braucht ihn nur anzuschauen, um zu verstehen, dass er ein ganz eigenes, inniges verhältnis zur Realtiät hat. Wenn er spricht, drückt er sich zusammenhanglos mit abgehackten Worten aus: „daheim“, „unterwegs“, „das grüne“. Seine Antworten klingen mechanisch, sie nehmen einen Teil der Frage wieder auf.
Was er durchsickern lässt, ist ein Konzentrat. Er ist ein Alchemist, der Worte destilliert. Man muss nur lernen, sie zu hören. (S. 21)

Als Francos Sohn Andrea drei Jahre alt ist, ändert sich für die Eltern alles: denn bei Andrea wird Autismus diagnostiziert. Für die Eltern ein Schock, der große Unsicherheiten auslöst, wie man am besten mit dem Kind umgeht, und auch eine Kette verschiedener, weitestgehend erfolgloser therapeutischer und medizinscher Ansätze zur Folge hat, um Andrea auf seinem Weg zu helfen.

Der Hausarzt bringt es es auf den Punkt: „Das Leben ist unvollkommen, aber es Weiterlesen

Opas Eisberg : auf Spurensuche durch Grönland / Stephan Orth

„Für uns war Grönland eine Offenbarung. […]. Und zu dem, was uns, oder wenigstens mir da offenbar wurde, gehört die klare Erkenntnis, dass wir, die wir uns als Kulturträger für weise halten, mit unserem Prinzip des ‚Immer schneller‘ und ‚Immer mehr‘ zu Narren geworden sind. Dadurch, dass es zehnmal geschwinder geht, dass wir an einem Tag zehnmal so viel hören, sehen und treiben können, meinen wir wohl den Lebensinhalt zu verzehnfachen. Wenn nun aber der Eindruck im gleichen Masse dürftig wird, als er flüchtiger ist? Was ist da gewonnen? […] Wenn die Eindrücke, die auf uns eindringen, zehnmal schneller daherstürmen, so wird dafür ihre Wirkung um das zehnmalzehnfache geringer. Und das Ergebnis ist dies, dass, je hastiger wir leben, um so ärmer werden.“ (Alfred de Quervain, Ergebnisse der deutsch-schweizerischen Grönlandexpedition 1912-1913. Zürich 1920. Zitiert nach Stephan Orth, Opas Eisberg. – 2013. S. 196)

In vielen Familien gibt es Dinge, die mit Erinnerungen aufgeladen sind, von Generation zu Generation mit ihren Geschichten weitergegeben werden und manchmal um eine Geschiche reicher werden. Seltener finden sich Gegenstände, die mehr sind, in denen sich die Vergangenheiten der Familie ebenso spiegeln wie die Zeitläufte. Manchmal aber überstrahlen die in einem Gegenstand konservieren Zeitläufte sogar ein wenig die Erinnerungen an längst verblichene Familienmitglieder. Der Zauber aber liegt immer in der besonderen Qualität des Gegenstandes und nicht in der Masse an Dingen, die wir aus vergangenen Familienzeiten horten.

Viele Jahre liegt es da, „in Büchlein in tarnfarbengrauem Leineneinband, direkt neben der Urne, direkt neben Opa“. Dann, 49 Jahre nach dessen Tod, nimmt der Weiterlesen

Der Hase mit den Bernsteinaugen : das verborgene Erbe der Familie Ephrussi / Edmund de Waal

Das letzte Mal, dass die Netsuke in solch geselliger Runde herumgereicht wurden, war in Paris, Edmond de Goncourt, egas und Renoir taten das in Charles Ephrussis Salon, eingerichtet im damals üblichen guten Geschmack, ein Dialog zwischen einem erotisierten Anderen und der neuen Kunst.
Nun, wieder daheim in Japan, sind die Netsuke eine Erinnerung an Gespräche mit den Großeltern über Kalligraphie, über Poesie oder den shamisen. Für Iggies japanische Gäste gehören sie zu einer versunkenen Welt, die durch die Düsternis der Nachkriegszeit noch trüber wirkt. Schaut an, scheinen die Netsuke vorwurfsvoll zu sagen, welchen Reichtum an Zeit es gegeben hat. (S. 306)

Es ist so eine Sache mit den Dingen, die wir besitzen und die doch nicht selten, im Übermaß angehäuft, eher uns besitzen, uns belasten und so eine bisweilen erdrückende Macht über uns ausüben können. Kann man sich nicht von ihnen trennen, so sind sie in der Lage, einem mühelos die Luft abzuschnüren, einen einzuengen und das eigene Wohnumfeld zu einem Hort von Weiterlesen

Dies beschissen schöne Leben : Geschichten eines Davongekommenen / Andreas Altmann

Ganz nah ran, hieß die Devise. Manchem ist das zu nah. Nichts wird hier ‚überhöht‘, nirgends taucht eine ‚Metaebene‘ auf, nicht eine Zeile Literatur. Nur Geschichten, die ich erlebt habe, bescheidener formuliert: die mir widerfuhren. Bin eben nur Reporter. Bin sklavisch abhängig von der Realität, von dem, was mir die Welt an Geschenken und Zumutungen überlässt. (S. S. 11)

Wer Altmanns autobiografisches Buch Das Scheissleben meines Vaters, das Scheissleben meiner Mutter und meine eigene Scheissjugend gelesen hat, wird fassungslos und fasziniert zugleich gewesen sein, wie der Autor nach der beschriebenen, er- und durchlittenen Jugend spät, doch nachhaltig einen eigenen Weg ins Leben findet und die rettung – das Schreiben – für ihn zum Lebensinhalt wird. Wer Altmann schon vorher kannte und schätzte, hat nach dem Buch zumindest ansatzweise begriffen, warum Altmann schreibt, was ihn antreibt und zu einem der besten deutschsprachigen Reiseschriftsteller gemacht hat.

Mit „Dies beschissen schöne Leben“ legt Altmann eine Weiterlesen

Die Geister, die uns folgen : eine Geschichte von Liebe und Krieg / Janine di Giovanni

Im Unterschied zu Frauen suchen sich Männer andere Schwerpunkte, schreiben viel über militärische Strategie und Waffen, immer wieder Waffen. Wer sie kauft, wer sie verkauft, woher das Geld stammt. Mich interessiert mehr, wie sich eine Mutter fühlt, die an der Front lebt und ihr Kind unter Kugelhagel zur Schule bringt. (SZ-Magazin 49/2011)

Janine di Giovanni schreibt seit über 20 Jahren unter anderem für die Times und die Herald Tribune aus Kriegs- und Krisengebieten. In „Die Geister, die uns folgen“ berichtet sie über ihre Arbeit, vor allem aber über die psychischen Folgen, die sie lange unterschätzt hat.

1993 lernt sie in Sarajevo den Weiterlesen

Die Geschichte meines Lebens / Charles Chaplin

Die Zuneigung der Welt hat mich verwöhnt, die Welt hat mich geliebt und gehasst. Ja, sie hat mir ihr Bestes gegeben und nur wenig vom Schlimmsten. Was auch die Wechselfälle des Lebens mir Böses gebracht haben, ich glaube, daß Glück und Unglück aufs geratewohl über uns dahinziehen wie Wolken. Da ich das weiß, lasse ich mich durch die schlimmen Dinge nie zu sehr erschrecken und von den guten gerne überraschen. Ich besitze keinen Plan für das Leben, keine Philosophie – ob Weiser oder Narr, wir alle müssen mit dem Leben ringen. (S. 497-498)

Wer die unsterblichen Filme von Charles Chaplin liebt und ihn wie ich für einen der bemerkenswertesten Künstler des 20. Jahrhunderts hält, wird sich früher oder später auch mit seiner Biografie beschäftigen.

Besonderes Augenmerk verdient dabei seine Autobiografie, die Chaplin 1964 im Alter von 75 Jahren schrieb. Das Buch war seinerzeit ein Bestseller und lohnt noch heute die Lektüre, gibt Chaplin doch Weiterlesen

Fräulein Jacobs funktioniert nicht : als ich aufhörte, gut zu sein / Louise Jacobs

Ich saß wie ein Neutrum auf einem der Hocker. Ich blickte auf die Menschen und konnte nicht glauben, dass ich auch von ihrer Sorte war. Ich könnte auch anstoßen, könnte ins Gespräch kommen, könnte glänzende Augen haben, eine rauchen und genüsslich Wein oder Bier trinken. Aber ich konnte es nicht. Ich befand mich ganz weit weg vom Ufer, ich trieb auf offener See und scheute mich, an Land zu gehen. (S. 249)

Louise Jacobs wächst in der Schweiz mit sechs Geschwistern in sehr begütertem Haus auf, zählt ihre Familie doch zur reichen Brener Kaffeerösterdynastie Jacobs. Die Eltern kümmern sich um ihre Kinder, fördern und sind großzügig. Nur Louise macht es ihnen nicht leicht, denn durch die früh Weiterlesen

Sacks, Oliver: Onkel Wolfram : Erinnerungen

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Wer die Bücher von Oliver Sacks liest, merkt zweierlei: der Mann kann erzählen und er verfügt über ein leidenschaftliches Interesse daran, Zusammenhänge, Ursachen und Hintergründe zu verstehen. Wer wiederum „Onkel Wolfram“, Sacks Erinnerungen an seine Kindheit in London, liest, weiss am Ende, warum Weiterlesen

„Das musst du erzählen“ : Erinnerungen an Willy Brandt / Egon Bahr

Mittlerweile ist er 91 Jahre alt und immer noch hellwach und eloquent. Wer in der akteullen Ausgabe des ZEIT-Magazins das Interview mit Egon Bahr gelesen hat, konnte sich davon überzeugen und wird vermutlich auf das ausgesprochen lesenswerte aktuelle Buch von ihm aufmerksam geworden sein.

In „Das musst du erzählen“ berichtet Egon Bahr mehr als zwanzig Jahre nach dem Tod von Willy Brandt von der gemeinsamen Zeit mit seinem politischen und letztlich auch persönlichen Weggefährten. Manches davon kam bereits ansatzweise in dem Gesprächsprotokoll„Gedächtnislücken“ (mit Peter Ensikat) zu Sprache.

Der frühere Journalist Bahr entschied sich Anfang der 1960er Jahre gegen ein lukratives Angebot von Henry Nannen und wurde Leiter des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlin und damit Sprecher von Willy Brandt, dem damaligen Bürgermeister der geteilten Stadt. Gemeinsam mit ihm entstand das Konzept der Ostpolitik, des Weiterlesen

Meine geheime Autobiographie / Mark Twain. Übersetzt von Hans-Christian Oeser

„Was für einen winzigen Bruchteil des Lebens machen die Taten und Worte eines Menschen aus. Sein wirkliches Leben findet in seinem Kopf statt und ist niemandem bekannt außer ihm“ (Mark Twain, Meine geheime Biographie. Aufbau Verlag, 2012. – S. 45)

„Was einen innerlich am meisten beschäftigt, sollte das sein, worüber man schreibt“ (S. 145)

Angenommen, Sie müssten jemandem Ihr Leben erzählen: auf welche Art und Weise würden Sie das tun? Klassisch in chronolgischer Reihenfolge? In strikter Auswahl nur der wesentlichen und gegebenenfalls vorzeigbaren Lebenstationen, Begegnungen, Erlebnisse? Würden Sie Dinge auslassen – und wenn ja, warum? Gäbe es Dinge, die Sie für zu banal erachten würden, um von Ihnen zu erzählen – und woran bemessen Sie diese Banalität?
Vom eigenen Leben zu erzählen dürfte auch heute im Zeitalter der permanenten Selbstbespiegelung nicht einfacher sein als vor einhundert Jahren, erzwingt doch eine solche Erzählung immer eine Reduktion auf das vermeintlich Wesentliche, dass aber zu gegebenen Augenblicken sowohl vom Erzähler als auch vom Zuhörer jeweils unterschiedlich in seiner Bedeutung für das jeweilige Leben bewertet werden dürfte. Dazu kommt, dass die Erinnerung oft trügerisch ist, wir dazu neigen, Dinge auszublenden, zu vermischen oder in größere Entferungen voneinander zu stellen. Fraglich ist auch, ob wir es immer ehrlich mit uns meinen würden, wenn wir aus unserem Leben erzählen ; vielleicht, weil es Dinge gibt, die uns, vielleicht, weil es Dinge gibt, die andere, noch lebende Menschen in einem seltsamen Licht erscheinen lassen mögen.

Mark Twain hat es sich nicht leicht gemacht mit seiner Autobiographie, einem Projekt, dass ihn viele Jahre mit wechselnder Intensität und Intension beschäftigt hat. Grundsätzlich hatte er Weiterlesen

Wie soll ich leben? oder Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten / Sarah Bakewell. Aus dem Englischen von Rita Seuß

„Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will“ (aus: Montaigne: Essais. Ziziert nach Bakewell, Sarah: Wie soll ich leben?, S. 312).

Bei der Lektüre der letzten Monate ist mir Montaigne immer wieder begegnet, etwa in Stephen Greenblatts fulminantem Buch „Die Wende : wie die Renaissance begann“. Doch noch immer habe ich die Essais von ihm noch nicht gelesen, obwohl ich das sichere Gefühl habe, dass sie eine unvergessliche Lektüre bereiten werden.
Sarah Bakewell hat sich Montaigne und damit den Essais auf ungewöhnliche Weise angenähert und macht damit einmal mehr Lust, diesen von jeder Generation neu und anders für sich entdeckten Autor und sein berühmtes Werk endlich zu lesen. Dabei gelingt es ihr auf bemerkenswerte Weise, den Leser intensiv und plastisch in das Leben Montaignes und in seine Zeit zu entführen und gleichzeitig in die Essais einzuführen, in ihre Entstehungsgeschichte, ihre verschiedenen, umfänglich wachsenden Ausgaben, die Verleger und Herausgeberkontroversen in den Jahrhunderten nach Montaignes Tod sowie ihre Rezeption bis in die heutige Zeit.
Gerade beim säkularen Skeptiker und Humanisten Montaigne ist das Werk von seinem Leben und seiner für seine Zeit besonderen Art, die Welt zu betrachten, kaum zu trennen. Die Essais, die zugleich einer neuen Literaturgattung ihren Namen gaben, sind geprägt von Weiterlesen

Knast / Joe Bausch

Die meisten kennen ihn als Rechtsmediziner Dr. Roth aus dem Kölner Tatort. Aber Joe Bausch ist nicht nur Schaupieler mit einiger Theater- und Fernseherfahrung auch abseits des Fernsehkrimis, sondern auch studierter Mediziner und als solcher seit 1986 Gefägnisarzt in der Justizvollzugsanstalt Werl.
In „Knast“ berichtet er von seinem Alltag als Gefägnisarzt in Werl. Wer jetzt reisserische Geschichten aus der harten Welt des Strafvollzugs erwartet hat, wird sich enttäuscht sehen. Zwar nimmt Bausch kein Blatt vor den Mund und beschreibt Weiterlesen

Momentum / Roger Willemsen

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„Jeder, der in der Nacht trunken über das Kopfsteinpflaster nach Hause geht und den Schatten betrachtet, der vor ihm nach Hause schwankt, und die Häuserwände, die zu beiden Seiten aufragen und die schlafenden Brüstchen der Vögel fühlt, die unter den Dachvorsprüngen sitzen, wie sie sich heben und senken und so weiter, der muss sich sagen, das bist du schon lange nicht mehr, sondern es ist die mitgeführte Vorstellung deiner selbst, du Geisel einer Neigung, in Sätzen zu sehen. Doch dann hat die Nachtbäckerei schon geöffnet, ich trete, satt wie ich bin, in den warmen Geruch des Gebäcks, kaufe zwei heiße Brioches und habe das Fassbare gleich als schmelzenden Zuckerguss an meinen Fingern“ (Roger Willemsen: Momentum, S. 249)

Es gibt Bücher, bei denen es schwer fällt, sie einem Genre zuzuordnen, Bücher, denen die mehr oder weniger passende Schublade, in die man sie aus verständlichen, menschlichen Erwägungen nach Einteilung und Verständnis der Welt heraus geneigt ist zu stecken, nicht gerecht wird. Nun gibt es eine Menge Bücher, bei denen das Weiterlesen

Das Mädchen vom Amazonas : meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern / Catherina Rust

Es gibt Bücher, bei denen ahnt man schon vor der Lektüre, dass sie einen ergreifen und bewegen werden, zugleich aber auch mit einer leisen hoffnungslosen Verzweiflung zurücklassen, weil sie offensichtlich machen, wie intensiv wir unseren Planeten derzeit verändern und wieviel Schützenswertes irreversibel verloren zu gehen droht.
So ging es mir auch bei der Lektüre von „Das Mädchen vom Amazonas“ der 1971 geborenen Journalistin Catherina Rust, die als Tochter eines deutschen Ethnologen bis zu ihrem sechsten Lebensjahr bei den noch sehr traditionell lebenden Aparai-Wajana-Indianern im brasilianischen Amazonasgebiet aufwuchs. Als ihre Tochter verbotenerweise Erinnerungsstücke aus dem Schrank kramt, wird die Vergangenheit bei der Enddreissierging wieder lebendig. In ihrem Buch ruft sie sich ihre Kindheitserinnerungen an die Zeit bei den Indianern in Mashipurimo wieder zurück und schafft intensive Bilder beim Leser: unmittelbar scheint man dabei zu sein bei dieser Weiterlesen

Durchs wilde Deutschland: von den Alpen bis zum Wattenmeer / Andreas Kieling

Deutschland gilt ja landläufig nicht gerade als Wildtierparadies. Wenn man wie der Autor dieser Zeilen ausserdem gerade aus dem eigentlich schönen Hohenlohe im Schwabenland zurückgekehrt ist und gesehen hat, wie wir auch dort unsere schönsten Landschaften mit hässlichen Gewerbegebieten zustellen, kann einem schon bange werden um die verbliebenen Landstriche, in denen noch wilde Pflanzen und Tiere zu entdecken sind.
Andreas Kieling, der bekannte und mehrfach ausgezeichnere Tierfilmer, der 2011 mit „Ein deutscher Wandersommer“ einen Bestseller über eine Wanderung längst der ehemaligen innerdeutschen Grenze landete, hat sich für eine ZDF-Produktion „Durchs wilde Deutschland“ begeben. Er streift durch die Alpen auf der Suche nach Steinböcken und Murmeltieren, taucht in trüben Flüssen nach den riesenhaften Welsen, begegnet in Großstädten wilden Tieren wie dem Biber und dem heutzutage selten Spatz. Mit spürbarer Faszination beschreibt er den Massenaufzug der Kraniche auf Zingst, wenn 40000 dieser großen Vögel auf ihrem Flug nach Süden rasten. Er folgt dem äußerst scheuen Weiterlesen

Das Geräusch einer Schnecke beim Essen / Elisabeth Tova Bailey

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Die amerikanische Journalistin Bailey wird durch eine seltene Virusinfektion über Monate bettlägerig und nahezu bewegungsunfähig. Als eine Freundin ihr eine Topfplanze schenkt, entdeckt sie unter einem der Blätter eine Schnecke. Tagsüber zieht sich diese Schnecke zurück, um nachts dafür umso aktiver zu sein. Fasziniert von dem zarten Geräusch der Schecke beim Annage eines Blattes Papier beginnt die unter ihrem durch das Liegen eingeschränkten Gesichtsfeld leidende Bailey, der Schnecke und ihren Aktivitäten einen Großteil ihrer Weiterlesen

Achtung Baby! / Michael Mittermeier

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Wer hätte das gedacht, als Michael Mittermeier vor Jahren noch in „Zapped – Ein TV-Junkie knallt durch“ über Kinder sinnierte, die man aufgrund ihrer – sagen wir mal – negativen Eigenschaften am besten sofort wieder zurück in den Mutterbauch expedieren sollte. Im Jahr 2008 wurde er selbst Vater – und schrieb über diese erste Zeit an der Wickelfront einen Bestseller, in dem sich Weiterlesen

Die Endurance : Shackletons legendäre Expeditionen in die Antarktis / Caroline Alexander

Auch nach fast 100 Jahren beeindruckt die gescheiterte Antarktis-Durchquerung von Ernest Shackleton und seiner Mannschaft, die in Überwinterung und einer dramatischen Rettung endete.

Kurz vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges bricht Shackleton mit der Endurance auf, um die Antarktis zu durchqueren. Wenn einer das Zeug dazu gehabt hätte, dann Shackleton: im Gegensatz zu Scott, dessen Südpolexpedition dramatisch gescheitert war, schätze Shackleton die Umstände un Weiterlesen

Goodbye Leningrad : ein Memoir / Elena Gorokhova

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Biografien gibt es viele und oft sind sie angefüllt mit erschreckenden Belanglosigkeiten, sentimentalen Anreicherungen, unerträglichem Sendungsbewußtsein oder einer schwer verdaulichen Mischung aus allem. Doch zum Glück für dieses geradezu klassiche Sachbuchgenre gibt es immer wieder Ausnahmen, gibt es Erinnerungen, die aus der Masse heerausragend und einem nach der bereichernden Lektüre nachaltig im Gedächtnis bleiben. Elena Gorokhovas „Goodbye Leningrad“ ist auf jeden Fall dazuzurechnen.
Die 1955 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geborene und heute in New Jersey lebende Autorin schildert darin ihre Weiterlesen

Sieben Welten – Seven Summits : Mein Weg zu den höchsten Gipfeln aller Kontinente / Geri Winkler

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Der 26 Jahre junge Geri Winkler bekommt 1984 die niederschmetternde Diagnose: Diabetes Typ 1. Die Ärzte machen ihm keine Hoffnung, dass er seine weitgreifenden Reiseträume jemals wird verwirklichen können. Im Gegenteil. Doch Geri Winkler gibt nicht auf. Auch nicht, als ihn knapp zwanzig Jahre später ein Krebsleiden ereilt …
Was klingt wie ein weiterer mehr oder weniger spannender, eher langatmiger Bericht eines Kranken, der es allen trotz gesundheitlichen Unbills mal so richtig gezeigt hat und dabei höhere Erkenntnisse über das Leben an sich und seines im speziellen gewonnen hat, ist doch anders – und sehr viel mehr: denn in „Sieben Welten – Sieben Summits“ treten die kaum erwähnten Beeinträchtigungen durch eine chronische Krankheit nicht nur in den Hintergrund, sondern kommen nahezu nicht vor.
Gerade dadurch aber überzeugt der Autor, denn er lässt uns an seiner Faszination für die Weiterlesen

Da steht mein Haus : Erinnerungen / Hans Keilson


Im April 2011 erschienen die Erinnerungen von Hans Keilson, des 1909 in Bad Freienwalde geborenen und 1936 aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die Niederlande geflohenen Arztes und Schriftstellers. Keilson, in Deutschland wohl nur literarisch interessierten Menschen bekannt, erlangte mit seinen Romanen internationale Aufmerksamkeit und wurde 2010 von der New York Times als „one of the world’s greatest writers“ gefeiert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg behandelte er als Psychoanalytiker schwer traumatisierte jüdische Waisenkinder und wurde zudem Facharzt für Psychiatrie. Bereits 1990 begann er mit autobiographischen Aufzeichnungen, die zugleich eine Erinnerung an seine Jugend, aber auch einen Bericht über jüdisches Leben im Deutschland der ersten Jahrhunderthälfte, über den aufkeimenden Nazismus und den Weg ins Exil darstellen.
„Da steht mein Haus“ – unter diesem einfachen, kaum mehr als deskriptiven Titel sind seine in einem schmalen Bändchen herausgebrachten Erinnerungen erschienen. Und doch klingt bereits in diesem Titel einiges vom dem besonderen Ton an, den Keilson mit seinen Worten findet. Weniger die akribisch aufgezeichneten Details üblicher Autobiographien machen sein Buch aus: Keilson zeichnet sein Leben bis in die 40er Jahre gleichsam Weiterlesen

Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend / Andreas Altmann


„Kein Kind wird je fassen, dass es sich ohne Liebe zurechtfinden muss, dass die einen geliebt wurden und die anderen nicht. Verfügt jener, der leer ausging, aber über genug Nerven, wird er die Hintergründe aufspüren, warum seine Eltern ihn nicht liebten“.
Man kann sich vielleicht vorstellen, dass eine Jugend im erzkatholischen Altötting in den dumpfen 50er und den freiheitsliebenden 60er Jahren nicht ganz einfach war. Dann erfährt man, das der Autor Sohn eines Devotionalienhändlers war, also eine Verkäufers für religiösen Erbauungskitsch und sieht eine noch enger reglementierte, enge Jugendzeit vor sich. Was Andreas Altmann, einer von Deutschlands besten Reiseschriftstellern, dann in seinem Buch berichtet, verschlägt einem vor Erschütterung die Sprache:
Er wächst als drittes von vier Geschwistern auf mit einem Vater, der an der Weiterlesen

127 Hours – Im Canyon / Aron Ralston

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An einem Samstag im April 2003 bricht Aron Ralston mit dem Auto und dem Mountainbike auf in den Canyonlands National Park in Utah. Dort will er zu Fuß, allein und mit wenig Ausrüstung den Bluejohn Canyon durchqueren. Doch schon nach wenigen Stunden ändert sich sein Leben dranmatisch: er stürzt beim Klettern in einem schmalen Canyon und reisst einen Felsbrocken mit sich, der seinen rechten Arm zur Felswand hin einklemmt. Bald erkennt Ralston, dass es keine Rettung gibt, denn niemand weiss, wo genau er ist. Er versucht zunächst, den Felsen mit seinem Multitool zu zerkleinern. Doch das schlägt ebenso fehl wie ein improvisierter Flaschenzug und der Versuch, mit dem stumpfen Messer des Multitools Weiterlesen