Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht im Bezug auf Klettern, hohe Berge und Schwindelfreiheit: meine seit jeher vorhandene Höhenangst hat mich zwar nicht davon abgehalten, mir bei langen einsamen Rucksack-Wanderungen einige ausgesetzte Wege in den Alpen zu erarbeiten oder mich mittlerweile komplett angstfrei durch Kletterparks zu bewegen. Aber es gibt Grenzen, auch wenn ich offenbar durchaus in der Lage bin, Klettersteige neben Abgründen durchzusteigen wie dieses Jahr in den Vogesen. Mit beiden Händen an der im Feld verankerten Eisenstande natürlich. Weit hinter den anderen.
Bouldern geht und Klettern in einer Kletterhalle könnte ich mir vielleicht noch vorstellen – Klettern am Fels dagegen scheint mit außerhalb meiner Möglichkeiten zu liegen, selbst wenn mich jemand professionell am Seil sichern würde. Klettern am Fels ohne Seil, wie es Alex Honnold macht, ist Science Fiction für mich. Trotzdem bin ich wie auch bei anderen Extremsportlern fasziniert darüber, was Alex Honnold tut – und so lag es nahe, nach dem überaus beeindruckenden, zu recht mehrfach ausgezeichneten Film „Free Solo“, der seine Besteigung der 1000 m hohen Wand des El Capitan ohne Seil und künstliche Hilfsmittel auf atemberaubende Weise dokumentiert, auch die neueste Auflage seines Buches „Allein in der Wand“ zu lesen, der ein eigenes Kapitel über den spektakulären Aufstieg angefügt wurde.
„Allein in der Wand“, das Honnold zusammen mit David Roberts schrieb, zeichnet Honnolds Lebensweg, seine Lebenseinstellung und seine Art zu klettern auf bemerkenswerte Weise nach: Abschnitten, in denen Roberts über Honnolds Werdegang berichtet, wechseln sich mit eigenen Schilderungen ab. Zusammen ergeben sie auch für den von Kletterwissen gänzlichen unbeleckten Leser eine überaus intensive Lektüreerfahrung: Honnolds Motivation, seine Art, sich akribisch vorzubereiten, aber auch seine mit den Jahren gewachsene Sicht auf die Welt werden deutlich sichtbar. Kletterkollegen kommen ebenfalls zu Wort, darunter nicht wenige, die Honnold zwar schätzen, selber aber die kalkulierten Risiken, die er mit dem Freiklettern eingeht, nicht tragen würden. Spürbar wird auch, warum Honnold so fasziniert ist vom Freiklettern – und so zeichnet sich rasch das Bild eines Menschen ab, der, wenn er in Bestform ist, an der Wand absolut auf den jeweiligen Augenblick und die damit zwingend verbundene Handlung fokussiert ist. Honnold hat seine Grenzen dabei über Jahre immer weiter hinausgeschoben – nicht nur durch Freikletterrekorde, sondern auch durch klassische Klettertouren etwa in Patagonien. Schon beim Sehen des Kinofilms kam mir der Gedanke, dass wohl die wenigsten Menschen auf diesem Planeten in ihrem Leben je über Stunden so absolut fokussiert auf etwas sein dürften wie Honnold bei seinem knapp vierstündigen Free Solo auf den El Capitan.
Freiklettern in der Form, wie Honnold sie betreibt, verzeiht keine Fehler. Wer Honnold deshalb für einen leichtsinnigen Menschen hält oder ihm jedes Risikobewusstsein abspricht, wird nach der Lektüre des Buches eines Besseren belehrt: gerade durch seine akribische Vorbereitung ist sich Honnold jedes seiner Schritte sehr bewusst, geht in der Vorbereitung gerade die schwierigen Stellen theoretisch, aber auch praktisch durch Besteigungen am Seil immer wieder durch, bis sich ihm die Bewegungsabläufe faktisch verinnerlicht haben, er die problematischen, schwierig zu greifenden Stellen schon beim gesicherten Ausprobieren zu lösen versucht hat. Lebensmüde ist Honnold keineswegs, bricht im Zweifel auch Besteigungen ab, wenn sie sich als zu schwierig erweisen oder er merkt, dass sein Körper an Grenzen gerät. Unbestreitbar ist natürlich trotzdem, dass er ein hohes Risiko eingeht und auch erfahrene Kletterer mit hohem Respekt vor ihm selbst diese Risiken nach eigenem Bekunden nicht eingehen würden.
Honnold ist mittlerweile in der Kletterszene gut vernetzt: etliche seiner Kletterfreunde kommen über den Co-Autor oder Honnold selbst zu Wort und vervollständigen so das Bild von ihm: unter ihnen sind Größe wie Conrad Anker oder der sieben Jahre ältere, auf Bigwalls spezialisierte Tommy Caldwell. Thematisiert werden auch Todesfälle in der Kletterszene, darunter auch jene von Kletterern, die Honnold nahestanden oder ihn besonders beeinflusst und motiviert haben. Bemerkenswert auch, wie Honnold lebt: bis vor kurzem hauste er in einem zum Camper umgebauten Transporter und vermag weiterhin einer mit der Anhäufung von Besitz einhergehenden Lebensweise nicht viel abzugewinnen. Der Atheist und Vegetarier Honnold, der sich der gegenwärtigen gesellschaftlichen und umweltpolitischen Probleme sehr bewusst ist, nutzt seine Erfolge als Extremsportler mittlerweile auch, um sich für eine bessere Welt einzusetzen – etwa über die von ihm gegründete Stiftung.
Fazit: ein äußerst lesenswertes Buch für all jene, die mit stockendem Atem im Kino „Free Solo“ gesehen haben und mehr erfahren wollen über diesen bemerkenswerten Menschen.