Mein Vater kommt von weit her.
Ich kann es nicht sehen oder erklären, aber ich spüre es. An diesem Ort gibt es Worte für Dinge, die nicht mehr existieren.
Irgendwie haben Spuren davon es geschafft, in mein Bewußtsein zu sickern. Es ist Teil meines Fundamentes geworden, wie Mörtel bei einem im Bau befindlichen Haus. Beinahe schmecke ich die Atmosphäre auf meiner Zungenspitze.
Wenn mein Vater geht, wird mit ihm jene Atmosphäre verschwinden.
Werden mit mir die Reste verschwinden?
Wann wird mein Haus komplett sein?
Ich frage mich, ob man das jemals selber weiß?
(S. 110-111)
Eine Jugend im Paris der 1980er Jahre zur Musik von Grace Jones, den Talking Heads, Serge Gainsbourg. Miniröcke, Parties, Zigaretten. Ihr Vater, der bekannte Maler Avigdor Arikha (1929-2010), der all das verachtet, befreundet ist mit Samuel Beckett, Henri Cartier-Bresson, Giacometti, Raymond Queneau und Gary Cooper. Ein Vater, der nur knapp den Holocaust überlebte und keine Jugend hatte. Alba Arikha erzählt von einer Kindheit und Jugend in diesem Spannungsfeld zwischen den flirrenden 1980er Jahren und einer Familiengeschichte, die vom Zweiten Weltkrieg, von der Judenverfolgung und -vernichtung, dem Exil und der Diaspora geprägt ist. Besuche bei der überlebenden Großmutter Pepi werfen Schatten auf diese Jugend, in denen die Konturen von Schmerz und Verlust sichtbar werden, die die Familie geprägt haben:
Ihr Schmerz ist ein offenes Fenster, das nie ganz geschlossen ist. Sie muss trauern, um zu spüren, dass sie lebt (S. 33)
Das Verhältnis zum Vater ist geprägt von den Ablösungsbestrebungen der gegen ihn und seine festgefahrere Weltsicht aufbegehrenden Tochter und zugleich von der Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte, ihren vielfältigen kulturellen und sprachlichen Wurzeln und den dadurch vorhandenen unbewussten Prägungen. Erst in Gesprächen mit ihrem Vater, die von diesem immer wieder unterbrochen werden, erfährt sie mehr über die dramatischen Umstände seines Überlebens, über die Grausamkeiten der Deutschen und ihrer rumänischen Verbündeten gegenüber den Juden. So beginnt sie darüber zu reflektieren, warum ihre Familie so anders ist als die ihrer Freundinnen und sucht ihren eigenen Weg zwischen der Vergangenheit, den Erinnerungen und der Gegenwart.
Ich hätte Russin sein können. Ich hätte Natascha heissen können wie die Heldin in Krieg und Frieden. Ich hätte im heutigen Moskau leben und russische Rockmusik hören können. Ich hätte Jeans auf dem Schwarzmarkt kaufen können und Silvester 1981 mit einem Freund feiern können, der dem jungen Vladimir Majakowski ähnelt. Mein futuristischer Dichter-Held. (S. 101)
Trotz der Rebellion gegen den Vater und der tiefen Sehnsucht, in einer ganz normalen Familie aufzuwachsen, ist spürbar, wie stark das intellektuelle Umfeld Einfluß nimmt auf die heranwachsende Tochter. Gespräche mit Cartier-Bresson gehören zum Alltag, Samuel Beckett liest ihre Gedichte, wechselt Briefe mit ihr.
Es ist erstaunlich und betrüblich zugleich, dass dieses Buch offensichtlich bisher so wenig Aufmerksam bekommen hat. Alba Arikha hat eine beeindruckende, hochliterarische Autobiografie geschrieben, in der sich die persönliche Geschichte mit der Historie des Zwanzigsten Jahrhunderts und der Shoa auf ebenso bedrückende wie berührende Weise verbindet. Erinnerungen, Rückblenden, Reflexionen und Assoziationen bilden das Gerüst einer zart gewobenen Geschichte, der man sich nicht entziehen kann. „Wörterbuch einer verlorenen Welt“ ist eine autobiographische Spurensuche und zugleich ein ungemein poetisches, zärtliches Buch einer Tochter über und für ihren Vater, das tief berührt und für mich zu den schönsten Leseerlebnissen in diesem Jahr zählt.
Danke für Ihre Art zu schreiben, einfachfantastisc.
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie viel Gesundheit und ein langes Leben.
Manfred Wakolbinger
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Danke schön! Die späte Antwort bitte ich zu entschuldigen. Mein Blog ist seit ein paar Monaten nicht so gut betreut wie gewohnt. Auch Ihnen und Ihrer Familie alles Gute, Gesundheit und Glück!
Jarg
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Lieber Jarg,
die Autorin und ihr Buch kannte ich in der Tat nicht. Deine Besprechung – und das Thema des Buches – klingen allerdings ganz so. als ob ich das über kurz oder lang mal lesen müsste. Ich finde besonders die Thematik der Nachgeborenen der Holocaust-Überlebenden, die Du in Deiner Besprechung so gut wiedergegeben hast interessant. Und dass dann noch verquickt mit einer Kindheit und Jugend im künstlerisch-intellektuellen Milieu im Paris der 80er. Da treffen in so viele verschiedene, ja fast konträre Lebensläufe in einer Familie aufeinander. Vielen Dank für diesen tollen Tip und liebe Grüsse
Kai
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Lieber Kai,
das, was Du beschreibst, macht das Buch eben so interessant und aktuell. Ich fange gerade erst an, mich mit dem Thema Traumafolgen (insb. im Bezug auf Kriege und Katastrophen) auf nachfolgende Generationen zu beschäftigen und dabei auch innerfamiliäre Beziehungen und Verwicklungen im neuen Licht zu sehen. Sachbücher gibt es ja eine Reihe dazu … aber Arikhas Buch gibt einen sehr literarischen Bezug dazu, der streckenweise durch die Schilderung der Holocaust-Erlebnisse aus ihrer Familie sehr bedrückend, aber auch beeindruckend ist in Anbetracht der Lebensleistung der so schwer traumatisierten Menschen.
Liebe Grüsse von
Jarg
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Lieber Jarg,
ich habe mir das Buch vor Wochen gekauft, doch seitdem liegt es ungelesen im Regal. Deine Worte machen mir Mut, es möglichst bald zu lesen – ich bin schon jetzt sehr gespannt auf die Lektüre.
Liebe Grüße
Mara
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Liebe Mara,
dann bin ich gespannt auf Dein Urteil. Ich hoffe, es beeindruckt und bereichert Dich ebenso wie mich.
Liebe Grüsse von
Jarg
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