Biografien gibt es viele und oft sind sie angefüllt mit erschreckenden Belanglosigkeiten, sentimentalen Anreicherungen, unerträglichem Sendungsbewußtsein oder einer schwer verdaulichen Mischung aus allem. Doch zum Glück für dieses geradezu klassiche Sachbuchgenre gibt es immer wieder Ausnahmen, gibt es Erinnerungen, die aus der Masse heerausragend und einem nach der bereichernden Lektüre nachaltig im Gedächtnis bleiben. Elena Gorokhovas „Goodbye Leningrad“ ist auf jeden Fall dazuzurechnen.
Die 1955 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geborene und heute in New Jersey lebende Autorin schildert darin ihre Kindheit und Jugend in der Sowjetunion der 60er und 70er Jahre und des Kalten Krieges: den ersten Verfallsanzeichen des Kommunismus wurde ein propagandagestärkter absurder Durchhaltewille entgegengestellt, der den grauen, von vorne bis hinten bürokratisch betimmten und geregelten Alltag durchdrang, letztlich aber in einer „Wranjo“ genannte, perfekt beherrschten Haltung endete, in der alle So-tun-als-ob – und auch jeder weiß, dass alle So-tun-als-ob. Diese Haltung prägt auch die Familie der Autorin, allen voran die Mutter, die mit der Sowjetunion aufgewachsen ist und sie geradezu zu verkörpern scheint. Skandalös ist da schon der letztlich durchgesetzte Wunsch der älteren Schwester, Schauspielerin zu werden. Elena selbst entdeckt früh ihre Leidenschaft für die englische Sprache und damit Interesse an der Kultur des Klassenfeindes, gerät damit in Widerspruch zur herrschenden Doktrin und schafft es aber – dank des internalisierten „Wranjo“ – Englisch zu studieren, zu unterrichten und letztlich so auch Kontakt zu englischen und amerikanischen Austauschstudenten aufzunehmen. Mit Robert aus Texas eröffnet sich ihr schliesslich ein Weg hinaus aus der sozialistischen Tristesse …
Mit feinem Humor und Witz, einer genauen Beobachtungsgabe, Sinn und für das bedeutsame Detail und großem Einfüghlungsvermögen erzählt Elena Gorokhova ihre tragikomische Lebensgeschichte, die durch die Alltags- und Mentalitätsschilderungen aus der genannten Zeit über den biografischen Rahmen hinausreicht und den ehrlichen, schonungslosen Blick zurück auf das sozialistische Russland in all seinem Widerspruch wirft.
Gorokhova ist ein sprachlich sehr ansprechendes, durchaus als literarisch zu bezeichnendes Buch gelungen, das von einem Leben im Spannungsfeld von notwendiger Anpassung an die Verhältnisse und der Sehnsucht nach Freiheit berichtet, von der Absurdität des russischen Alltags und den allgegenwärtigen Ausbrüchen daraus, von denen alle wissen, aber über die niemand redet. Mit ihrem ehrlichen, humorvollen, mal bitteren, mal liebevollen Blick auf die Zeitläufte entwickelt sie so ein erstaunliches, durch feine Ironie gebrochenes Bild von einem Land, dass es so nicht mehr gibt. Ein wunderbares Buch, dem viele Leser zu wünschen sind.
Startseite » Bücher » Goodbye Leningrad : ein Memoir / Elena Gorokhova
Hallo Jarg,
es ist immer schön, wie man auf Bücher aufmerksam gemacht wird, die man sonst mit aller Wahrscheinlichkeit übersehen würde. Danke für deine Zeilen und deinen Tipp!
Liebe Grüße und ein schönes Wochenende wünsch ich Dir.
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Das freut mich … und so wünsche ich gegebenenfalls viel Spaß beim Lesen. Ebensfalls liebe Grüsse und ein zauberhaftes Wochenende!
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