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Der Atem der Welt : Roman / Carol Birch

„Mein Herz klopfte laut und ängstlich in meinem Ohr, das ich ins Kissen gedrückt hatte. So lange ich lebe, werde ich nicht weise sein. Werde niemals verstehen, warum es so geschah, wie es geschah, niemals verstehen, wohin sie gegangen sind, all jene Gesichter, die ich so deutlich in der Dunkelheit sehe. Es gibt keine dritte Möglichkeit, sondern schlicht und einfach nur: Leben oder Sterben. Jeder Augenblick eine Blase, die platzt. Geh weiter, einen Schritt und noch einen, immer weiter, auf einem Regenbogen aus Trittsteinen, jeder platzt leise, wenn Dein Fuß ihn berührt und weiterläuft. Bis ein Schritt nur leere Luft trifft. Bis dieser Schritt erfolgt, leb!“ (S. 373)

London in den 1850er Jahren. In den heruntergekommenen Docklands herrschen üble Zustände, sind die Menschen getrieben von Armut, Hunger und Gewalt. Jaffy wächst dort in äußerst armen Verhältnissen heran. Als 8jähriger begegnet er fasziniert und furchtlos auf offener Straße einem entlaufenen Tiger, der ihn im Maul davonträgt. Gerettet durch den Tierhändler Charles Jamrach, wird er von diesem angestellt und heuert als Heranwachsender zusammen mit seinem besten Freund Tim auf einem Walfänger an, um einen echten Drachen zu fangen. Zusammen erleben sie das rauhe Leben auf See und bereisen den Indischen Ozean.

Doch auf dem Rückweg von der erfolgreichen Reise sinkt ihr Schiff in einem schweren Unwetter. Die Überlebenden retten sich auf zwei Beiboote und versuchen verzweifelt, Land zu erreichen. Schon bald führt sie die entbehrungsreiche Odyssee an die Grenzen dessen, was ein Mensch ertragen kann, und Jaffy sieht sich am Ende einer Entscheidung gegenüber, die ihn bis an das Ende seines Lebens verfolgen wird.

„Der Tod war nah. Saß neben mir. Es tat offenbar weh, falls man nach den anderen gehen konnte. Und wenn sie, warum nicht ich? Wie kam man da hin? Ich meine, in den Tod, wo immer das wilde Ding dich auch fallen ließ; dich, mit stockendem Atem, erstaunt. werde ich fallen oder sanft treiben? Wann würde der Augenblick kommen, in dem ich Bescheid wüsste? Was würde ich hören? Was sehen? Den Himmel, dunkel oder hell, die Bootswand. Würde ich schwer oder leicht gehen? Welch ein Schmerz. Mehr als alles andere, welch ein Schmerz, die Welt verlassen zu müssen.“ (S. 305-306)

Abenteuerromane kann man gemeinhin zwei Kategorien zuordnen: da sind zum einen jene, die einen gestählten Helden durch allerlei natürliches Unbill ans Ziel seiner heldenhaften Reise tragen, die stets unter dem Motto „Mensch gegen Naur“ zu stehen scheint und meistens demselben, stereotypen Muster folgt. Zum anderen gibt es jene vordergründig das Etikett „Abenteuer“ tragenden Bücher, die eine spannende Geschichte mit etwas verbinden, was größer ist, tiefer geht, nämlich mit in die Handlung eingebundenen Reflexionen über die Welt und das Menschsein. Zur letztgenannten Kategorie liessen sich einige Werke zählen, darunter berühmte wie „Moby Dick“ von Melville oder „Papillon“ von Charriere.

Carol Birch ist mit „Jamrach’s Menagerie“ (so der Originaltitel des von Christel Dormagen ins Deutsche übertragenen Buches) ein wunderbares Beispiel für jene eben beschriebene zweite Kategorie des Abenteuerromans gelungen. Mit großer Empathie schildert sie die Geschichte von Jaffy aus dessen Perpektive und findet dabei zu einer ausgesprochen farbigen Sprache, die Schönheit ebenso wie unaussprechlich scheinende Schrecken in Worte fasst und dabei intensive Bilder findet. „Der Atem der Welt“ wird so nicht nur zu einem Roman über das Erwachsenwerden, über Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod und das harte Leben im London des 19. Jahrhunderts und auf einem Segelschiff inmitten rauher See. Er beschwört auch eine seltsame Freundschaft, die den Schrecken eines unausweichlich scheinenden Todes überdauert.

Überhaupt: die (Sprach)Bilder. Birch und damit auch ihrer Übersetzerin Dormagen gelingen Bilder von eindrücklicher Kraft, die lange nach der Lektüre des Buches nachwirken. Sie beschreiben nicht nur das London in der Mitte des 19. Jahrhunderts, sondern versetzen einen mitten hinein in Gestank, Unrat und Elend, bis wir innehalten in jenem Moment, als Jaffy die weiche Schnauze des Tigers berührt und uns der Atem stockt, bis die Geschichte ihre plötzliche Wendung genommen hat und langsam, aber stetig Fahrt aufnimmt. Wir hören und spüren das wilde, unbändige Meer, wie es über die Planken eines im Sturm geneigten Schiffes schäumt, spüren den Hunger, den Durst, die Verzweiflung der Schiffbrüchigen fast schon körperlich, sehen uns als Leser tief hineinversetzt in ihre existenzbedrohende, unfassbare Entscheidungen erzwingende Situation.

„Ein merkwürdiger, rot gepunkteter Krebs krabbelte an meinem Fuß vorbei. Felix sammelte große weiße, geringelte Muscheln und stapelte sie bei den Booten auf. Neben dem Käfig spalteten Martin und Abel Holz für Pfähle. wellen mit weißen Schaumkronen rollten ans Ufer. Oben, wo der Strand an den Wald grenzte, hatte sich totes Holz angesammelt. Ich lief umher und sah mir alles Mögliche durch mein Fernglas an – rote und blaue Vögel in den Bäumen, die Felsen im Meer, die Schlucht -, bis ich zu dicht an die Bäume geriet und plötzlich erschrak, als ich in das blasse, unruhige Grün blickte. Die Baumstämme waren silberne Striche. Das stumme Echo von etwas unendlich viel Dichterem und Dunklerem brütete tief dort drinnen, wie dumpfes Geheul aus einer Kehle.“ (S. 170)

Die Odysssee der zusehend kleiner werdenden Schaar Männer in ihren Rettungsbooten wird dabei am Ende zum Sinnbild der Machtlosigkeit des Menschen gegenüber der Natur und ihren Kräften. Zehrte bereits die Seereise an den Kräften der Männer, brachte ihr Unglück sie nicht nur rasch über die Grenzen ihrer physischen Belastbarkeit hinaus, sondern auch an die Grenzen dessen, was der menschliche Verstand zu ertragen imstande ist. Schon im Untergang des Schiffes wird an der Sprache mehr als deutlich, das die Kraft der Natur gegenüber der des Menschen stets am Ende obsiegen wird, und der Leser fühlt sich bald selbst den Elementen ausgesetzt:

„Das Meer schwappte über den Heckspiegel, ergoss sich über das Deck, gurgelte um die im Wasser verschwundenen Niedergänge, und im Herzen des Schiffs fand nun eine kollossale Verschiebung statt, als sämtliche drei- oder vierhundert Ölfässer sich, mit einem Lärm wie das Ende aller Tage, auf einmal in Bewegung setzten. Lärm: das Meer, der wilde Wind, die Stimmen unserer Mannschaft, als das zerbrechliche Stückchen Holz, auf dem wir lebten, wie am Rutschigen Pfahl auf dem Jahrmarkt herumrollte und der Himmel hochflog, als das Schiffsschaukelschiff sich in die Höhe schwang. Doch es kam nicht mehr herunter“. (S. 231)

Birch Roman hat zwei reale Ereignisse als Aufhänger: zum einen die tatsächliche Flucht eines bengalischen Tiger aus der Menagerie des von Charles Jamrach, dem ein achtjähriger Junge entgegen ging, um ihn zu streicheln: er wurde davongetragen und von Jamrach mit einem behertzten Sprung auf den Rücken des Tigers gerettet. Zum anderen die wahre Geschichte des sechzehnjährigen Charles Ramsdell, der nach dem Untergang des Walfängers Essex im frühen 19. Jahrhundert seinen Kinderfreund erschiessen musste, nachdem auf diesen das Los fiel.

Beide Ereignisse nimmt Birch in geschickter Verknüpfung zum Ausgangspunkt für eine spannende und zugleich tief berührende Geschichte über das Erwachsenwerden, über Freundschaft und die menschliche Existenz an sich. Für mich war es eine der schönsten Leseerfahrungen zum Jahreswechsel und ein Buch, das lange nachwirkte.

16 Kommentare zu “Der Atem der Welt : Roman / Carol Birch

  1. Hi, eigentlich kann ich gar nicht „kommentieren“, weil noch nicht gelesen – aber dann kommt bestimmt etwas. – die beschreibe fasziniert aber jetzt schon. – lieben gruss

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    • Es freut mich, dass Dir die Rezension gefällt … und ich hoffe, dass das Buch Dich ebenso zu fesseln und faszinieren vermag wie mich.
      Liebe Gruesse und Dank für den Kommentar von
      Jarg

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  2. Ich weiß gar nicht, wie oft ich dieses Buch schon in der Hand hatte und mich nicht entschließen konnte, es mitzunehmen und zu lesen. Dank der „Sonntagsleserin“ und der Bücherphilosophin bin ich nun hier auf diesem interessanten Blog gelandet und danke recht herzlich für diese Rezension! LG :-).

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    • Liebe Birthe,
      gern geschehen! Es freut mich, dass der „Atem der Welt“ Dich auf diesem Wege dann doch erreicht und hoffe, die Lektüre wird Dir ebenso zum Erlebnis wie mir. Danke für das Kompliment zum Blog und herzliche Grüsse von
      Jarg

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    • Liebe Anna,
      das freut mich – und danke für das Kompliment. Ich hoffe, es wird für Dich eine ebenso intensive und berührende Lektüre …
      Herzlich grüsst
      Jarg

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  3. Pingback: (Die Sonntagsleserin) KW #05 – Januar/Februar 2014 | Bücherphilosophin.

    • Danke schön, liebe Bücherphilosophin, für den Verweis auf meine Rezension und die überaus feinen Komplimente darüber. Das freut 🙂
      Herzlich grüsst
      Jarg

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    • Lieber Blauer Fuchs,
      das lesenswerte Buch habe ich gelesen, den Film leider noch nicht gesehen. Kann noch kommen, aber auch dauern bei meinem SUFF (Stabel Ungesehener Fantastischer Filme) … 😉
      Liebe Grüsse von
      Jarg

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  4. Lieber Jarg,

    ich erinnere mich noch sehr gut an mein Lektüreerlebnis mit diesem Roman. Ich saß wie gefesselt auf dem Bett und es fiel mir schwer, das Buch überhaupt nur aus der Hans zu legen, so großartig wird diese spannende Geschichte erzählt. Schön, dass du ein ganz ähnliches Leseerlebnis gehabt hast.

    Liebe Grüße
    Mara

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    • Liebe Mara,
      das Buch mag man wirklich nicht aus der Hand legen: spannend und berührend zugleich, wirkt es lange nach: gut, das es im austauschbaren Bucheinerlei immer wieder solche Perlen gibt, oder?!
      Liebe Gruesse von
      Jarg

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    • Genau so wie Euch beiden ging es mir auch! Ich weiß noch, dass ich im letzten Drittel angekommen war und wir Gäste erwartet haben – und ich habe inständig gehofft, dass sie vielleicht ein paar Minütchen später kommen oder am liebsten gar nicht, nur damit ich weiterlesen kann. Das Buch hat sich mir wirklich eingebrannt und ich finde es bis heute unfair, dass in dem Jahr Julian Barnes den Booker gewonnen hat, obwohl Carol Birch auch auf der Shortlist war.

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      • Liebe Desiree,
        die Konkurrenz zu Julian Barnes war mir noch nicht bewusst – aber ich hätte ihr den Preis sehr gewünscht. Und dem Übersetzer gebührt Lob.
        Ein sehr intensives Buch mit starken Sprachbildern und einem unglaublichen Sog, der einen eilig und gebannt zwischen den Zeilen versinken liess.
        Ich hoffe auf mehr von der Autorin – mit entsprechend hohen Erwartungen.
        Liebe Gruesse von Jarg

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