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Ich & Monsieur Lavoie : Roman / Marie-Renée Lavoie

Quebec, Kanada, in den 1980er Jahren. Sie nennt sich Joe und behauptet, zehn Jahre alt zu sein. Dabei ist Hélène, die ein wenig anders ist als andere Kinder ihres Alters, erst acht, und ausgesprochen klein und zierlich. Aber um in ihrem etwas heruntergekommenen Viertel als Zeitungsausträgerin arbeiten zu können, muss sie ein wenig blöffen. Oft fühlt sich Joe einsam in ihrer Familie, die aus drei Schwestern und den als Lehrer arbeitenden Eltern besteht: ihre Mutter verbirgt einen weichen Kern hinter rauher, wenn auch durchaus aus fürsorglicher Haltung stammender Strenge und Härte, während der Vater seine Lebenstraurigkeit nur mit Alkohol erträgt. Kein Wunder, dass sich Hélène oft in die Parallelwelt einer im späten 18. Jahrhundert in Frankreich für vor der Revolution spielenden Fernsehserie flüchtet und andererseits hofft, mit dem verdienten Geld heimlich die Haushaltskassenlöcher ihrer Familie stopfen zu können.

Die praktisch veranlagte Hélène hat den offenen, wachen und unverstellten Blick des Kindes auf die Welt, sieht so tiefer in andere Menschen hinein und verliert nie ihren Optimismus und ihren Humor. Mit dieser Mischung aus kindlicher Lebensklugheit und Naivität schliesst sie auch rasch Freundschaft mit dem 80jährigen, lebenssatten Griesgram Roger, der in ihr Haus zieht und sich vor allem durch seine derben Flüche auszeichnet. Langsam entwickelt sich die Freundschaft zwischen den beiden Einsamen, und während Hélène trotz mancherlei Unbill auch durch die Kraft ihrer Fantasie nie den Mut verliert, gewinnt die Freundschaft zu dem zunehmend gebrechlicher werdenden Roger an Bedeutung: während das Mädchen dem Alten neue Inspiration gibt, beschützt er sie vor manchem Unbill.

Hélène wächst an den Herausforderungen ihres nicht immer leichten Alltags … und aus dem Blickwinkel der erwachsenen Hélène, die in der Rückschau die Geschichte erzählt, wird deutlich, welche innere Stärke sie hat, um den Widgrigkeiten ihres jungen Lebens zu trotzen.

Marie-Renée Lavoie ist ein wunderbares Buch gelungen, dass mit sanftem Humor und großer Empathie den Weg eines Mädchens durch ihre nicht eben einfache, von Geldmangel und einem zwar liebenden, aber letztlich dem Alkohol verfallenden Vater und einer rauhen Mutter geprägten Kindheit erzählt. Bei der Lektüre musste ich manches Mal an das heute so gebräuchliche Schlagwort Resilienz denken: in der Tat zeigt die Geschichte von Hélène beispielhaft, wie es einem Kind gelingen kann, trotz widriger Umstände einen eigenen Weg ins Leben zu finden. Dabei darf nicht unterschätzt werden, dass Hélènes Eltern sie und ihre Schwestern lieben, wenngleich sie diese Liebe vielleicht nicht so zeigen können, wie es angebracht gewesen wäre und der alkoholkranke Vater für seine Töchter kein wirklicher Halt ist.

Labvoies Buch zeigt aber auch, welche Energie in der Kraft der Fantasie verborgen liegt: ihre unerschöpfliche Vorstellungskraft und die Freundschaft zu dem Alten helfen Hélène, ihren nicht ganz einfachen Weg zu gehen und letztlich zu einer selbstbewussten, starken Frau zu werden. Lavoies Roman ist auch in der Übersetzung von Norma Cassau und Andreas Jandl und trotz der zwischen den Zeilen aufschimmernden Traurigkeit der Lebensumstände Hélènes voller Humor, Fantasie und sprachlicher Schönheit und beeindruckt auch durch die spitzzüngigen Diskurse der Protagonisten.

Ein wunderbares, tief berührendes Buch über die Kraft der Fantasie, die Schönheit derber Flüche und unerschütterlichen Lebensmut – ein Roman, dem man eine einfühlsame Verfilmung geradezu wünschen möchte.

10 Kommentare zu “Ich & Monsieur Lavoie : Roman / Marie-Renée Lavoie

  1. Lieber Jarg,
    das klingt nach einem sehr lesenswerten Buch. Habe grade die Leseprobe bei Hanser gelesen. Das Buch kommt auf jeden Fall auf die Liste lesenswerter Bücher.
    Vielen Dank für die Entdeckung und liebe Grüsse aus dem Rheinland
    Kai

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    • Lieber Kai,
      gern geschehen. Ich hoffe, es gefällt.
      Liebe Grüsse aus dem nebeligen Norden kurz vor einer kleinen Fahrradtour (habe noch Urlaub) von
      Jarg

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    • Liebe Maren,
      eher nicht. Die Protagonistin ist zwar noch ein Kind, berichtet aber in der Rückschau als Erwachsene. Wenn auch die Kinderperspektive klar nachempfunden und druchgehalten wird, ist das Buch von der Sprache und der Komplexität der Geschichte her für Kinder noch nicht geeignet. Eher für ältere Teenager (wenn überhaupt) und junge Erwachsene …
      Liebe Grüsse von
      Jarg

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