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Die Karte meiner Träume / Regie: Jean-Pierre Jeunet. Darst.: Helena Bonham Carter; Judy Davis, Callum Keith Rennie […]

Eine abgelegenRanch in Montana. Der zwölfjährigen T.S. Spivet, Sohn einer Käferforscherin und eines knorzigen, wortkargen Rancher, hat sich ganz der Wissenschaft verschrieben. Seine besondere Begabung ist das Zeichnen von Karten, Grafiken und Diagrammen, in denen er seine Erkenntnisse und Beobachtungen, aber auch seine Ängste und Sehnsüchte auf eindrucksvolle Art zu Papier bringt. Dabei bringt er dem Whiskykonsum seines Vaters oder den sich verändernden Spaltöffnungen von Pflanzen ebensoviel Forscherinteresse entgegen wie den sich verändernden Spaltöffnungen von Pflanzen, der Systematik der Langeweile oder dem Interaktionsmuster der Familie am Abendbrottisch. Alles was ihn bewegt oder seine Neugier fesselt, wird von ihm grafisch aufbereitet.

Da trifft ein Brief des Smithsonian Institute aus Washington ein: T. S. Spivet erfährt, dass er für seine hervorragenden Zeichnungen in Washington einen Wissenschaftspreis bekommen soll und in diesem Zusammenhang auch eine Rede zu halten ist. Da er sich nicht traut, seinen Eltern davon zu erzählen, macht er sich bei Nacht und Nebel mit etwas seltsamem Gepäck auf den Weg. Es wird eine Reise zu sich selbst, bei der sich Spivet auch seinen verdrängten Erinnerungen zu stellen beginnt: er liest im Notizbuch seiner Mutter und erfährt von einer Vorfahrin, die Forscherin und Kartografin war. Immer wieder hält er auch die Reiseerlebnisse und seine Reflexionen in Karten und Zeichnungen fest und beginnt sich nach den Koordinaten von Ängsten, Träumen, Verlust, Einsamkeit und Schuld zu fragen.

Seine Reise führt ihn quer durch das weite Land. Er trampt mit Lastwagen und mit der Bahn, entkommt mehrfach dem Sicherheitspersonal und trifft auf einen außergewöhnlichen Landstreicher, bis er schliesslich in Washington ankommt. Langsam enthüllt sich während der Reise dem Leser, dass Spivet eine schwere Last mit sich trägt – seit dem einen Ereignis, nachdem in der Familie nichts mehr so blieb, wie es war.

Vor Jahren fiel mir das gleichnamige Buch von Reif Larsen in die Hände, dass mir zunächst wegen des ungewöhnlichen Formats auffiel, dann aber zunehmend aufgrund seiner liebevollen Ausstattung mein Interesse weckte. Bis heute zählt es zu den eindrucksvollsten Büchern, die ich je gelesen habe, weil es einen auf eine ganz besondere Weise berührt. Eine Verfilmung dieses Romans schien mir wünschenswert, aber kaum machbar.

Jetzt hat sich Jean-Pierre Jeunet „Die fabelhafte Welt der Amelie“) an den Stoff gewagt und eine beeindruckend inszenierte Adaptation des Buches geschaffen, die mit nachgerade magischen Bildern von großer Schönheit bezaubert und berührt. Der Film transportiert überzeugend den Kern des Buches und lässt den Zuschauer gebannt eintauchen in die märchengleiche Welt des kleinen Forschers Spivet und damit in eine Geschichte über Trauer und Schweigen, über Liebe und Verlust und nicht zuletzt über die Kraft der kindlichen Fantasie. Mit T. S. Spivet begegnet uns einer jener kindlichen Helden, die man nicht wieder vergisst und einen mit den in ihnen gebündelten Eigenschaften schmerzhaft daran erinnern, was wir als Erwachsene nur allzuoft verlieren: unsere Fantasie und damit die Kraft, dem unvermeidlichen Ende unsere Neugier und unser Staunen entgegenzustellen.

Ein wunderbarer Film, Roadmovie und hinter der Wirklichkeit verborgenes Märchen zugleich, der für mich weit, ganz weit oben steht auf der Liste der besten Filme dieses Jahres.

10 Kommentare zu “Die Karte meiner Träume / Regie: Jean-Pierre Jeunet. Darst.: Helena Bonham Carter; Judy Davis, Callum Keith Rennie […]

  1. Lieber Jarg,
    den Film habe ich mir vor ein paar Wochen angeschaut und es ist ein wirklich schöner Film. Ich habe das Buch ebenfalls vor einiger Zeit (weit vor dem Film) gelesen und kann auch hier nur sagen, Du hast völlig recht, das Buch ist grossartig, und wenn mal Inhalt und Form bei eineem Buch übereinstimmen, dann hier. Ich würde also fantasiebegabten Menschen sowohl das wunderbare Road Movie als auch das Buch ans Herz legen, egal, in welcher Reihenfolge. Einfach, weil beides nicht vergleichbar ist.
    Ich habe Ende der 70er während des Germanistik-Studiums mal ein tiefschürfendes Pro-Seminar ‚Literatur und Film‘ belegt. Da wurde viel diskutiert usw. aber am Ende musste ich mit einer Gruppe von 4 anderen ein Thesenpapier zum Thema Kleist-Verfilmung machen. Wir hatten deshalb mehrere Treffen mit weiteren hochtheoretischen Diskussionen, einigen Mengen Alkohol und vielen knoblauchgetränkten Pita Gyrossen in der schönen Tübinger Schänke ‚Stadt Herrenberg‘, die gleichzeitig auch noch Delphi hiess, wenn meine Erinnerung nicht komplett ertrunken ist. Das Ende vom Lied und das grösste Problem dabei war allerdings der Abgabetermin. Der rückte immer näher und wir hatten immer noch quasi nix. Ja, und da haben wir formal sehr schön und korrekt das Deckblatt des Thesenpapiers mit Seminarnamen, Datum und und unseren Namen versehen und noch ein Blatt hinzugefügt. Dadrauf stand bloss dieser Satz:

    „Literatur ist nicht verfilmbar!!!“

    Tja, peinlich sowas, wir haben das irgendwie revolutionär von uns gefunden aber es wir waren jung und brauchten den Schein…
    ach ja, und nach der mündlichen ‚Diskussion‘, in der wir unsere These verteidigen mussten, haben wir eine Gruppen-2 bekommen. Der Dozent hatte Humor, damit hatten wir nicht gerechnet…
    So, gut jetzt. Was wollte ich sagen? Das Buch ist grossartig, der Film ist wirklich schön anzusehen, beides hat nicht wirklich viel miteinander zu tun aber max nix. Und Literatur ist und bleibt nicht verfilmbar…
    Liebe Grüsse
    Kai

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    • Lieber Kai,

      Danke für deinen Kommentar und die launig wiedergegebene Erinnerung an das revolutionäre Thesenpapier. Ich vermute, heutige Dozenten hätten nicht mehr so viel Humor und würden einen glatt durchrasseln lassen, gilt es doch meistens, sein Studium in maximaler Effizienz zu absolvieren und ja nicht zur Seite zu sehen, um sich rasch den Bachelor geben zu können.

      Ich habe mir ja meinerseits in den 1980ern noch – bedingt durch schwere Krankheit – eine gewisse Dauerstudentenzeit (19 Semester) leisten können samt zwei Semestern Studium generale, die ich vorwiegend damit verbrachte, meine Klischees über die Studenten bestimmter Studienfächer durch Beobachtung bestätigt zu sehen:

      Archäologiestudenten = Gummistiefel = Softige Grabungsbereitschaft
      Philosophiestudenten = Irgendwie weltfremd und meist unverständlich redend
      Psychologiestudenten = In Pausen ihre Komplexe reflektierend
      BWL-Studenten = Akute Geldbörse-Hirn-Symbiose

      Aber die Vorlesungen von Friedemann Schulz von Thun waren unglaublich bereichernd und die Archäologie der Metalltechnik in Afrika war spannend und bereichern heute noch manchmal meine morgendlichen Frühstücksvorträge. Dann kam das Bibliotheksstudium – immerhin noch mit Fächern wie Literaturwissenschaft. Leider auch mit heute absurd erscheinenden Katalogisierungsregelwerken („Du sollst keine Nebeneintragungen neben mir haben!“)

      Gibt es alles nicht mehr heute. Alles unverfilmbare Erfahrungen. So wie diese Buch, klar!

      Liebe Grüße und ein zauberhaftes Wochenende!

      Jarg

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  2. Ja, fand ich auch, das war ein beeindruckender Film. Das Buch aber ist natürlich – un so soll es ja auch sein – noch viel besser und auch ganz besonders. Ganz Deiner Meinung als 🙂

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    • Verflimungen sind ja immer so eine Sache, weil man ja auch seine eigenen Bilder im Kopf hat. Aber Jeunet hat es doch ordentlich gemacht und man konnte seinem Film geniessen 😉

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  3. Danke für den Tipp – der Film steht bei mir schon länger auf der Wunschliste. Nun wir er wohl gekauft…
    Interessanter Blog übrigens – wir scheinen einen ähnlichen Filmgeschmack zu haben…

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