Ein Ort ist keine Bühne, keine Kulisse, vor der wir unser Leben führen. Er ist ein Teil dessen, was wir sind. (S. 108)
Jeder, der schon einmal nervös mit angesehen hat, wie der Nachbar einen Zaun aufstellt, weiß, wie wichtig ein paar zentimeter Grund sein können: Kaum einer von uns wird sich aus dem Fenster lehnen und rufen: ‚Kein Problem, stellen Sie den Zaun einfach irgendwo auf‘. (S. 171 ff)
Alles ist erforscht. Jeder Winkel der Erde bekannt, vermessen, kartographiert und registriert. Das sollte man zumindest meinen in unserer modernen Zeit. Alastair Bonnett belehrt uns eines besseren und nimmt uns mit auf eine Reise um die Welt zu Orten, von denen wir nie für möglich gehalten hätten, dass es sie gibt. Das gibt es Inseln, die auf Kartehn verzeichnet sind aber nicht existieren, gesetzlose Enklaven, die in Enklaven liegen, die wiederum in Enklaven liegen, belebte Städte, die offiziell nicht existieren. Es gibt Gebiete, die keine Nation haben will, Friedhöfe, die über die Jahre zu Städten wurden, die nur an einem Tag im Jahr geräumt werden, Labyrinthe und Städten, die jahrzehntelang vergessen waren.
Bonnett schreibt über bizarre Orte, die sich jeder Kategorisierung entziehen, die unbekannt, fremd und wie aus der Zeit gefallen scheinen. Wie etwa North Sentinel Island mit einer der letzten von der Zivilisation unberührten Bevökerung, die jeden Kontakt mit der Aussenwelt ablehnt und das zur Not mit Pfeil und Bogen deutlich macht. Oder Nahuaterique zwischen Honduras und El Salvador: einst zwischen den beiden Ländern höchst umstritten, gilt die region jetzt dem „Gewinner“ des Konflikt (Honduras) als ziemlich gleichgültig. Twail Abu Jarwal ist ein Nomadendorf der Beduinen im Negev, das nicht existieren darf, von den Israeli immer wieder zerstört und anschliessend neu aufgebaut wird.
Bonnett führt uns zum Parkdeck des Flughafens von Los Angeles, wo gestresstes, unterbezahltes Flugpersonal in Campingbussen haust. Verblüfft lesen wir von Kangbashi, einem riesigen Geisterviertel der Stadt Ordos in China – nur gebaut, um Wohlstand zu zeigen. Wir lesen von Prypjat, verstrahlt und verwaist seit Tschernobyl, und von Kijong-Dong in Nordkorea, einer nur zum Imponieren gebauten grenznahen Geisterstadtm die vollständig simuliert ist. Wir reisen mit ihm zu den Bimssteinflßen des Pazifik und den Müllinseln, zu den bizarren Luxusressorts der „schwimmenden Malediven“ und der Piratenstadt Hobyo am Horn von Afrika.
Auch die Fake-Estates von Matta-Clark aus dem New York der 1970er Jahre – kleine, von einem Konzeptkünstler aufgekaufte Stückchen Land zwischen Gebäuden, die auch als Gutterspaces bekannt wurden – macht Bonnett zum Thema: sie machten die Sehnsucht des Menschen nach der eigenen Scholle, einem wenn auch winzigen Fleckchen Land spür- und greifbar und damit die Macht des Wortes Grundbesitz, verbunden mit der besonderen Ästhetik des geordneten Raumes und seiner Kartographierung und Kategorisierung. Zugleich kritisierten sie diese Sehnsucht des Menschen nach Besitz, nach eigenem Land, waren sie doch faktisch nicht nutzbar.
Bonnett zeigt uns anhand einer Verkehrsinsel, dass seltsame Orte überall sind – auch in unseren Städten – und öffnet uns nicht zuletzt damit die Augen für die vergessenen Orte unserer durchgeplanten Welt. Kenntnisreich widnet der Professor für Social Geography an der Universität Newcastle sich all den Orten, die sich unserer Einordnung entziehen, die aus der Zeit fallen und zu geographischen und sozialen Kuriositäten geworden sind. Gleichzeitig zeigt er, dass Raum auch ind er globalisierten Welt immer noch untrennbar mit dem Menschen und seinem Empfinden verbunden ist: auch wenn wir uns als Weltbürger verstehen, können wir doch ohne Raum nicht sein – und wo der Raum uns das Menschsein erschwert oder erschwert (wie im Niemandsland von Honduras oder den enklavischen Enklaven zwischen Bangladesh und Indienes), entzieht sich uns sogleich die Möglichkeit zum sinnhaften, glücklichen Leben.
Ein ungemein spannendes, unterhaltsames Sachbuch, das man am Ende verblüfft, verwundert und bereichert zuklappt.
Auch hier in Deutschland soll es solche Orte geben. Manche grüne Insel zwischen Auto- bahn Auf- und Abfahrten und in Autobahnkreuzen soll heimlich bewohnt sein. Gibt es darüber Erkenntnisse?
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Ein bisschen schon in diesem Buch.
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