Deutschland in der Mitte des 21. Jahrhunderts: Gesundheit steht im Fokus der Politik – und für eine Gesellschaft ohne Krankheiten, Suchtprobleme, Behinderungen oder Schönheitsfehler sind selbst massive Eingriffe in das Erbgut mittlerweile weithin akzeptiert, ist ungesundes Verhalten verpönt. Wer sich dem gesellschaftlichen Konsens, dass für eine gesunde Gesellschaft jedes Mittel recht ist, verweigert, wird schräg angesehen und muss mit erheblichen persönlichen und finanziellen Nachteilen rechnen. Für Kommissar Nix, der sich weitestgehend dem Optimierungswahn zu entziehen versucht, raucht und Alkohol trinkt, ist das alles nur schwer erträglich.
Als er eines Tages zu einer Autobahnbrücke gerufen wird, unter der der zerschmetterte Körper eines Mannes gefunden wurde, stellt sich nicht nur die Frage nach Mord oder Selbstmord: der Körper des Toten ist äußerst eigentartig gebaut – und die einzige Spur führt zu einem Massengrab in der Nähe von Düsseldorf. Nix holt sich bei dem gehörlosen Anthropologen Max Stiller und dessen Kollegin Sarah Weiss Rat, die schnell der Auffassung sind, dass es sich sowohl bei dem Toten als auch bei den maximal dreissig Jahre alten Knochen aus dem Massengrab um Neandertaler handeln muss. Schnell steht ein unglaublicher Verdacht im Raum: wurden Neanderthaler für genetische Experimente geklont? Doch bevor Nix, Stiller und Weiss ihrem Verdacht und dem dahinter vermuteten Skandal weiter nachgehen können, wird massiv auf sie Einfluss genommen. Offenbar gibt es einflußreiche Kreise, die die Aufdeckung des offensichtlich geheimes Projektes um jeden Preis verhindern wollen. Der beginn einer gnadenlosen Jagd zeichnet sich ab …
„Neanderthal“ ist eine gut abgestimmte Mischung aus Wissenschaftsroman und Thriller, der sich dem Thema der gesundheitlichen Optimierung durch genetische Eingriffe und positiv sanktioniertes „gesundes“ Verhalten widmet. Lubbadeh geht dabei von aktuellen Entwicklungen im Bereich der Gentechnik, aber auch der Gesundheitspolitik aus und extrapoliert mögliche Entwicklungen und die damit verbundenen ethischen Fragen in ein Deutschland der Mitte des 21. Jahrhunderts. Neben ethischen Fragestellungen kommen dabei auch mögliche unabsehbare Folgen von Eingriffen in das menschliche Erbgut zur Sprache. Da sich im modernen Menschen genetisch Spuren des Neanderthalers finden, lässt sich Lubbadeh in Rückblenden zugleich spekulativ auf die Frage ein, ob die Neanderthaler auch durch die Begegnung mit dem modernen Menschen ausgestorben sind.
Ich hatte die Gelegenheit, den Autor bei einer Lesung mit anschliessender Diskussion in Hamburg zu erleben, bei der auch Gehörlose anwesend waren, und bin sehr beeindruckt, wieviel Wissen zum gegenwärtigen Stand der Möglichkeiten in der Humangenetik bei ihm vorhanden ist, das er in der Form des Romans mit der Diskussion ethischer Fragestellungen, möglicher Risiken und den potentiellen Folgen menschlichen Gesundheits- und Perfektionierungswahns zu verbinden weiß. Lubbadeh hat einen gut strukturierten Thriller geschrieben, der mit einem sauber konstruierten Spannungsbogen und überzeugenden Protagonisten aufwarten kann und überdies auf hohem Niveau Chancen und vor allem auch Risiken von gegenwärtigen Fortschritten in der Humangenetik sowie die damit verbundenen ethischen Fragestellungen durch die Projektion in eine in diesem Fall eher dystopisch anmutende Zukunft beleuchtet.
Ein überaus spannender Roman, den ich kaum aus der Hand legen mochte und der überaus neugierig macht, sich mit dem hier literarisch aufbereiteten Thema auch anderweitig mehr zu beschäftigen.