Menschliche Kreativität beinhaltet Werte, Absichten, ästhetische Urteile, Emotionen, persönliches Bewusstsein und Moralgefühl. Das ist es, was Künste und Geisteswissenschaften uns lehren – und weshalb diese Gebiete nicht minder wertvolle Bestandteile einer Erziehung sind als Naturwissenschaften Technik und Mathematik. Wenn wir Sterblichen unserer Seite der Symbiose von Mensch und Computer gerecht werden wollen, wenn wir die Rolle als kreative Partner unserer Maschinen weiterspielen wollen, müssen wir die Quellen unserer Fantasie, Erfindungsgabe und Menschlichkeit weiter nähren. […]An der Umkehrung des Lobgesangs auf die Geisteswissenschaften ist allerdings auch etwas Wahres. Menschen, die Künste und Geisteswissenschaften lieben, sollten sich durchaus darum bemühen, die Schönheit von Mathematik und Physik zu würdigen. Andernfalls bleiben sie an der Schnittstelle von Künsten und Wissenschaft, wo sich im digitalen Zeitalter der größte Teil der Kreativität abspielen wird, nur Zuschauer und überlassen die Kontrolle über dieses Feld den Ingenieuren (S. 564-565).
Das Wechselspiel zwischen Kunst und Technik wird schliesslich in völlig neue Ausdrucksformen und Medienformate münden. Diese innovative Entwicklung wird von Menschen betrieben werden, die imstande sind, Schönheit mit Technik, Geisteswissenschaften mit Technologie und Poesie mit Prozessoren zusammenzubringen. (S. 566)
Wer sich intensiver mit der Geschichte von Computer, Internet und Digitalisierung auseinandersetzen will, muss weit zurückgehen und im Grunde erstaunlicherweise beim mechanischen Webstuhl anfangen. Walter Isaacson, der bereits mit einer Biografie über Steve Jobs einen Bestseller landete, beginnt mit seinem Buch über die „Vordenker der digitalen Revolution“ bei der Tochter Lord Byrons, Ada Lovelace, die sich von den lochkartengesteuerten mechanischen Webstühlen zur ersten komplexen Programmiersprache inspirieren liess, die für den nie fertiggestellten mechanischen Computer von Charles Babbage gedacht war und bereits Unterprogramme und Verzweigungen enthielt. Lovelace wird deshalb heute zu Recht als erste Programmiererin bezeichnet. Vom frühen 19. Jahrhundert spannt Issacson einen weiten Bogen bis in unsere Zeit und streift dabei wesentliche Meilensteine und Entwicklungsschritte, aber auch Sackgassen und Umwege bis hin zum heutigen Stand der Technik.
Beginnend mit der ersten komplexen Programmiersprache und einem ausführlichen Porträt der vielseitig begabten und gebildeten Ada Lovelace geht es unter anderem weiter über die Hollerithmaschinen und IBM, Rechner mit elektrischen Schaltkreisen aus Röhren bis hin zum ENIAC. Issacson beschäftigt sich intensiv mit der Erfindung von Transistor, Chip und Mikrochip. Unter anderem durch den Kalten Krieg und den Wettlauf zum Mond beschleunigt sich die Entwicklung, wird die Technik in atemberaubenden Schritten kleiner und leistungsfähiger. Erste Computerspiele entstehen, bis von Atari die erste Spielkonsole für den Heimgebrauch auf den Markt kommt und sich eine ganze Videospielindustrie zu entwickeln beginnt. Zeitgleich starten die Vorläufer des Internet, das wiederum in den 1990er Jahren Fahrt aufnimmt und schliesslich zum weltumspannenden Netz wird, wie wir es heute kennen, verbunden mit PCs, Rechenzentren, aber auch mit Smartphones.
Isaacson gelingt es in seinem Buch, Technikgeschichte überaus lebendig und anschaulich darzustellen: zahllose bekannte und weniger bekannte Wegbereiter werden vorgestellt, ihre Fähigkeiten, aber auch ihre Schwächen oder Marotten herausgearbeitet, ihre Arbeitsweisen deutlich gemacht: Ada Lovelace oder Alan Turing, Gordon Moore oder Nolan Bushnell, Bill Gates oder Steve Jobs, Tim Berners-Lee oder Larry Page – es würde zu weit führen, alle Personen aufzuführen, deren Anteil an der technischen Entwicklung der letzten 200 Jahre Isaacson würdigt. Dabei wird rasch deutlich, dass in aller Regel nur jene Ideen Erfolg haben, die im Team entstehen, in denen sich unterschiedliche Fähigkeiten und Mentalitäten bündeln. Zufall spielt dabei eine ebenso große Rolle wie Grundlagenforschung, kreative Arbeitsbedingungen, die im Bezug auf Fähigkeiten und Mentalitäten vielfältige Zusammensetzung von Teams und eine Gestaltung des Arbeitsumfeldes, die Begegnung ebenso ermöglicht wie sie dabei hilft, kreative Energien freizusetzen. Isaacson betont dabei auch, dass gezielte staatliche Förderung gleich wichtig ist wie die Privatwirtschaft mit ihren gewinnorientierten Interessen und beides sich gut ergänzt und befördert. Er streicht aber auch heraus, dass eine technikorientierte Bildung allein für die Weiterentwicklung der digitalisierten Gesellschaft nicht ausreicht, sondern auch die schönen Künste bzw. die Geisteswissenschaften: beide „Welten“ seien unabdingbar in der Weiterentwicklung nicht nur unserer digitalen Techniken und Werkzeuge, sondern der Gesellschaft insgesamt. Künstliche Intelligenz sieht er dabei eher skeptisch und hält es für wahrscheinlicher, dass Mensch und Maschine gemeinsam mit ihren jeweiligen Stärken mehr erreichen können.
Walter Isaacson ist ein überaus lebendig geschriebenes, spannendes, gehaltvolles und intellektuell anregendes Buch über Geschichte der Digitalisierung gelungen, das überdies deutlich macht, dass Digitalisierung und die damit verbundenen technischen Entwicklungen mitnichten ein Ergebnis der Arbeit von Technikern, Naturwissenschaftlern und Ingenieuren allein waren oder sind, sondern immer auch im kreativen Spannungsfeld mit den schönen Künsten und den Geisteswissenschaften standen, stehen und stehen müssen, um erfolgreich zu sein.
Ein sehr lesenswertes Buch, das ich kaum aus der Hand legen mochte und gerne empfehle.