In meiner Jugend galten Neandertaler noch als relativ grobschlächtige, eher tumbe entfernte Verwandte des Menschen, die zwar aufrecht gehen und einfache Werkzeuge herstellen konnten, aber sonst im Vergleich mit uns nicht allzu viel auf dem Kasten hatten und den Menschenaffen näher standen als uns. Dieses Bild hat sich durch die Forschungen und Funde der letzten dreissig Jahre und vor allem durch den Aufstieg der Gentechnik als Forschungsmethode massiv gewandelt.
Die zweiteilige BBC-Dokumentation „Der Neandertaler in uns“ geht diesem Wandel und den atemberaubenden Erkenntnissen jüngerer Zeit nach: Wir begleiten die Paläontologin Ella Al-Shamahi auf ihrer Reise zu verschiedenen Laboren und Forschungseinrichtungen in den USA und Europa sowie zu einzelnen Ausgrabungsstätten, an denen wichtige Neandertalerfossilien gefunden wurden. Zu beginn finden sich Al-Shamahi und einige maßgebliche Forscher in den auch für die Herr-Der-Ringe-Trilogie verantwortlichen Jellyfish Picture Studios ein, wo gemeinsam mit Andy Serkis (Gollum-Darsteller) mit Hilfe der Motion-Capture-Technik Bewegungsabläufe des Neandertalers naturgetreu im Film dargestellt werden sollen. Als Grundlage dient dabei eines des am besten erhaltenden Fossilien aus dem Irak, das im Laufe des Films buchstäblich ein Gesicht bekommt. Immer wieder wird diese Rahmenhandlung unterbrochen von Exkursionen Al-Shamahis zu den eingangs beschriebenen Orten: mit Hilfe der dort besuchten Forscher werden einzelne Aspekte der Anatomie und Physiologie des Neandertalers sichtbar.
Dabei reicht die Bandbreite der präsentierten, im Laufe der Dokumentation zum Gesamtbild zusammengesetzten Erkenntnisse von den motorischen und intellektuellen Fähigkeiten bis hin zu der durch das einzige bisher gefundene Zungenbein eines Neandertalers gut belegten These, dass sie zu Sprache zumindest theoretisch mit hoher Wahrscheinlichkeit fähig waren. Weitere verblüffende Erkenntnisse lieferte die Sequenzierung des Neandertalergenoms mit modernsten Methoden, die unsere Verwandtschaft mit ihnen ans Licht gebracht hat: da Neandertaler und moderne Menschen sich im Laufe ihrer parallelen Existenz auch miteinander gepaart haben, tragen Menschen aus dem amerikanischen, asiatischen und europäischen Raum bis zu 2 Prozent Neandertalergene in ihrem Erbgut mit Auswirkungen auf unseren Körperbau (unsere dickere Haut verdanken wir den Neandertalern), aber auch auf Krankheiten wie Diabetes. Aber auch Ausgrabungsergebnisse, die auf die Lebensweise der Neandertaler, ihre Ernährung und ihr soziales Verhalten etwa gegenüber kranken und schwächeren Clanmitgliedern Hinweise geben, fliessen in das Gesamtbild mit ein.
Am Ende ergibt sich so ein verblüffendes Bild: Neandertaler waren nicht nur zum Werkzeugbau und Feuermachen fähig und schufen etwa für Speere eigene Klebstoffe: sie waren deutlich stärker als wir und zwar nicht so ausdauernd, aber mit Sicherheit schneller auf kurzen Strecken, wenn es etwa um die Jagd auf Tiere und das direkte Töten mit einem zustossenden Speer ging. An ihre Umwelt waren sie erstaunlich gut angepasst, besaßen Mitgefühl und neben der Fähigkeit zum künstlerischen Ausdruck in Form von Höhlenmalereien vermutlich auch die Fähigkeit zur Sprache. Neandertaler und Menschen haben miteinander Nachwuchs gezeugt – und wenn auch keineswegs sicher ist, warum der Neandertaler ausstarb, ist doch belegt, dass wir uns sie eine Weile nebeneinander existiert haben.
Eine überaus spannende, auch für Teenager bestens geeignete Dokumentation in gewohnter BBC-Qualität über unseren leider ausgestorbenen Verwandten, die einen verblüfft und bereichert zugleich.