Deutsche Provinz, Anfang der 1990er Jahren. Auf den ersten Blick klingt Charlie Bergs Geschichte noch relativ unspektakulär: seine Künstlereltern sind getrennt und er lebt zusammen mit seinem dauerhaft dem Cannabis zugeneigten Vater und Deutschrock-Mucker Dito zusammen. Charlie kümmert sich um die permanent aus der dörflichen Bibliothek mit Lektüre zu versorgende autistische Schwester und ist genervt von seiner früh an eine Theaterkarriere verlorene Mutter. Doch Erlösung scheint nah: Charlie hat eine Stelle als Zivildienstleistender in einem Leuchtturm auf einer Nordseeinsel, freut sich auf den bevorstehenden Abschied und kommt damit auch seinem Romanprojekt endlich näher.
Doch dann wird sein grantelnder Opa bei einem Jagdausflug von einem Wilderer erschossen und sein Leichnam verschwindet über Nacht. Auch der Wilderer wird durch einen Fehlschuss Charlies verletzt und verunglückt bei der Flucht mit dem Auto schwer. Die Polizei hat Fragen, Charlies Mutter will endlich ihre Sachen abholen und dann sind da noch Charlies heimliche Liebe und Videobrieffreundin Mayra, die in Mexiko aufgewachsene ganzkörpertätowierte und einem Gangster versprochene Ziehtochter von Ditos bestem Freund, und Sira, die vom legendären „Grafen“ adoptiert wurde und mit Charlie mal eine Nacht verbracht hat. Mittendrin im Chaos steckt jetzt Charlie mit seinem extrem schwachem Herz, seinem überdurchschnittlich, um nicht zu sagen extrem guten Geruchssinn, seinen literarischen Ambitionen und der ungünstig terminierten und unverlagten Aufgabe, die Familie zusammenzuhalten. Zeit für Geschichten und Hirschgulasch, Erinnerungen an die Zeit, als Oma noch lebte, und Zeit für ungewöhnliche Aktionen im Wettlauf um den weiteren Verlauf der Ereignisse.
Dem 1974 geborenen Medienkünstler, Podcaster und und Musikproduzenten Sebastian Stuertz ist ein ungewöhnlicher Roman gelungen, der mit einem spektakulären Intro aufmacht und einen schon bald mit großer Sympathie für den Protagonisten und Ich-Erzähler sowie die anderen, überaus liebevoll gezeichneten Figuren fesselt. Charlies Geschichte ist voller absurder, furioser Volten und skurriler Charaktere und führt einem mit überaus feinem Humor und überraschenden, aber immer überzegenden Wendungen und intensiven Rückblenden durch Charlie Bergs Leben, seine Familie und ein paar Wochen, nach denen alles anders ist als zuvor. Musik, Gerüche und das noch nahezu komplett analgoe Setting der frühen 1990er Jahre spielen eine wesentliche Rolle in diesem ebenso berührenden wie herrlich schrägen und wilden: insbesondere Charlies Superkraft, das Riechen, ist ein zentrales Element der Handlung und trägt in den damit verbundenen Schilderungen dazu bei, dass dem Buch eine ganz eigene Poesie innewohnt. Wer wie der Rezensent John Irvings „Hotel New Hampshire“ kennt und liebt, wird sich rasch daheim fühlen und am Ende beglückt, bereichert, aber auch ein wenig traurig die Buchdeckel schließen und von Charlie Bergs Welt Abschied nehmen. Für mich war es eine der schönsten Leseerfahrungen in diesem Jahr, weshalb ich das Buch wärmstens empfehle.
Danke für den Tipp. Ich schleiche schon immer um das Buch rum.
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Danke für den Kommentar und entschuldige die späte (sehr späte) Antwort: und ja, das Buch lohnt sich wirklich und bleibt lange im Gedächtnis. Ich hoffe, dir geht es ebenso! Eine schöne Lektüre wünscht Dir
Jarg
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