Der 1922 geborene Egon Bahr, der die Ostpolitik der Regierung Brandt maßgeblich geformt und mitgestaltet hat, und der 1941 geborene ostdeutsche Kabarettist und Schriftsteller Peter Ensikat lernten sich erst nach der Wende kennen und wurden zu Freunden. Beide hatten sie im jeweiligen deutschen Staat, in dem sie lebten, auf ihre Weise eine wichtige, intellektuelle Rolle inne.
Im April 2006 treffen sie sich über zwei Tage in einem Fernsehstudio, erzählen einander von ihrem Leben und kommen über ihre Biografien miteinander ins Gespräch über die deutsche Nachrkiegsgeschichte: das Gespräch wird zu einem humor- und gehaltvollen Parforceritt durch die Geschichte eines geteilten Landes: der Bogen spannt sich von den Zeiten des Kalten Krieges, des Mauerbaus, der Entspannungs- und Ostpolitik über die Annäherung beider deutscher Staaten bis hin zum Mauerfall, der Wende und den schwierigen, bis heute andauernden Prozess, aus den beiden vierzig Jahre lang getrennten Staaten wieder ein Land zu machen.
Ausgesprochen schlagfertig, mit einigem Tiefgang und mit feinem Witz debattieren die beiden miteinander und schaffen so ein ausgesprochen lebendiges, in den eigenen Biografien gespiegeltes Bild der Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Ich habe die Lektüre sehr genossen und war über viele mir bisher nicht bekannte Details der deutschen Ostpolitk der 60er bis 90er Jahre sehr überrascht: bewundernswert ist dabei das immense Geschick Egon Bahrs einzustufen, mit dem Osten im Spannungsfeld des Kalten Krieges zu verhandeln um die ersten Annäherungen zwischen beiden deutschen Staaten zu erreichen.
Der Austausch zwischen ihm und Ensikat öffnet den Blick für historische Ereignisse, ihre Wahrnehmung im jeweils anderen deutschen Staat und die durch die lange Trennung bedingten Schwierigkeiten des Zusammenwachsens nach 1989/90. Gleichzeitig reflektieren sie über die Rolle Deutschlands in Europa, über Gegenwartspolititk und die Aufarbeitung der DDR-Geschichte, aber auch über den Sozialstaat und den Kapitalismus, über Wohlstand und Kultur.
Ich mochte die „Gedächtnislücken“ kaum aus der Hand legen, kann das Buch jedem politisch und kulturell interssierten Leser nur empfehlen und würde mir einmal mehr wünschen, dass es heute noch solche integren, weitsichtigen und geschickten Politiker gebe wie Egon Bahr.
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Klingt sehr interessant, lieber Jarg!
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… und macht zumindest mir Lust, auch die Biografie von Egon Bahr zu lesen. Und ich lese eigentlich nie Politikerbiografien.
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Da geht es mir ähnlich …
Aber Egon Bahr würde auch für mich eine Ausnahme darstellen. Ich höre ihm gerne zu. Immer mehr eigentlich.
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