Bei diesem Sonnenwetter bleibt in meinem verspäteten Frühlingsurlaub leider keine Zeit für das Lesen von Büchern und das Verfassen von Rezensionen. Dabei sind die tägliche Tour zur Schule und zurück, Vorbereitungen für das Mittagessen und andere Haushaltstätigkeiten nicht unbedingt die wesentlichen zeitbindenden Faktoren. Überraschenderweise ist es der unspekatulär erwscheinende Entschluss, den Balkonbelag zu sanieren, der gegen den erklärten Protest des männlichen Zwillings überfällig ist, hat sich doch in der geliebten zeh Jahre alten Beplankung mittlerweile allen Ölungen zum Trotz allerlei holzzersetzendes organisches Material angesiedelt.
Eine unscheinbare Entscheidung mit weitreichenden Folgen. Denn sowohl die Entsorgung der alten Beplankung bei dem neuen, komplett anders anzufahrenden Recyclinghof als auch das Besorgen der neuen Balkonbeläge wuchsen sich zu einer wahren homerischen Odyssee durch den flächendeckend mit Baustellenengpässen durchsetzten Westen der Stadt aus. Aber wie schon Odysseus weiland auf seiner nicht enden wollenden Reise eine Erfahrung nach der anderen sammelte, konnte ich mich – glücklich die Rampe zum überdachten Recylinghof hinaufgefahren – als technikaffiner Mensch während meines kurzen Aufenthaltes an der sauberen, effizienten Organisation desselben erfreuen. Natürlich folgten sogleich beschämten Gedanken an unseren derzeit archäologische Fahigkeiten erfordernden Keller, der seit kurzem zusätzlich von den unverhofft aus der jahrelangen Entleihung an ein befreundetes Zwillingselternpaar zurückgekehrten Kinderschutzgittern (Baby-Alcatraz Ausbaustufe 3) verstopft wird. Wohin damit, wenn man den Zwillingen längst den offenen Familienvollzug zugesteht und sie kurz vor Aushändigung des ersten eigenen Wohnungschlüssels stehen?
Nach weiteren gefühlten drei Tagen Fahrt in mehreren Staus und mindestens sechs baustellenbedingten Umwegen, die mich in Bereiche der Stadt führten, die noch nie ein Mensch zuvor betreten hat, waren dann endlich auch die neuen Balkonbeläge in jenem blauen Möbelhaus ergattert, dessen Name hier wegen nicht zu erzielender Werbeeinnahmen ungenannt bleiben soll. Auch die neue Säge, die der Trauer meines Sohnes eine Antwort in Form eines neuen, zum Glück notwendig zu besorgenden Werkzeugs entgegenstellen sollte, war nach weiteren 60 Minuten Fahrt nebst der Notpizza für den Mittagstisch dann endlich ergattert und der Tank fast leer. Doch vor den Balkonbelag hat Russells Teekanne in ihrer unendlichen Weisheit das Aufräumen angesetzt, das sich schnell mit existentiellen Fragen verknüpfte.
Wohin also mit den auf einer naher der Pferdekoppel vom weiblichen Zwilling aufgesammelten alten, eigentümlich gemsuterten Fliesen, an denen noch mehrere kiloschwere Ziegelsteine samt Mörtel haften? Wohin mit den zahllosen Strandsteinen? Und überhaupt: wie schaffen es die Steine, dass wir Menschen sie aufsammeln und heim tragen, um schliesslich eine die Balkonstatik vermutlich nicht unwesentliche beeinträchtigende Sammlung von Kieseln in unterschiedlichsten Farben, Formen und Größen zu horten? Haben uns die Steine in der Evolution womöglich mehr beeinflusst, als wir es für möglich halten? Da wir immerhin auf einem Gesteinsplaneten leben, liegt es nahe, dass die unendlich geduldigen Steine über viele Jahrmilliarden ihren stillen, unermüdlichen Einfluss auf die Lebewesen ausgeübt haben, um schliesslich eine Lebensform hervorzubringen, die liebend gerne Steine bewegt (bei Erdarbeiten), auftürmt (zu Häusern), durchbohrt (Neuer Gotthard-Basistunnel) und – Gipfel der Evolution – in völlig sinnfreier Sammelwut von den Stränden der Welt heimbringt, um sie dereinst wieder auf irgendeinem Acker oder in der Bauschuttabteilung des Recyclinghofes zu entsorgen.
Ganz klar: was die Blattläuse für die Ameisen, sind wir für die Steine. Jetzt fege ich noch schnell den Balkon und gehe dann, bevor die Steine die Macht übernehmen, mit der Schulklasse meiner Tochter zu den Pinguinen in den Zoo, um auf andere Gedanken zu kommen und die Ohnmacht gegenüber den Steinen zu vergessen. Schliesslich war Elternbegleitung gewünscht und ich darf trotz zweier bereits vorhandener Mütter mit. Vielleicht finde ich auch einen schönen Stein …!
Nach Hause gekommen, finde ich deine Antwort zum Kommentar. Zum Inhalt im letzten Teil deines Kommentars möchte ich auf den Link in meinem Sand-Blog hinweisen. …die Maßstäbe menschlicher Wahrnehmung… Man sieht auf dem Foto runde Kiesel. Sie entstanden als die Alpen vergletschert waren. Also wie lange braucht einmal ein Quarzstückchen, bis es durch Eis und Wasser abgerundet ist. Dann sind diese Kiesel in einem Gletscherbach über einen Kalkstock getragen worden und dort liegen geblieben. Dann hat sich der Kalkstock durch die Plattentektonik aufgetürmt und das Bachbett mitsamt den Kieseln auf die Seehöhe von 2.300m gehoben. Wann war das? Wie lange hat das gedauert? Und jetzt findet man diesen Kiesel dort oben. Liebe Grüße, Ernestus.
http://sandcollection.wordpress.com/2011/12/03/augensteine-aus-dem-steinernen-meer/
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Lieber Ernestus,
ja, mit dem Sand ist es genauso und mit der ganzen Plattentektonik, dem Verschieben und Falten ganzer Erdschichten. Diese Prozesse sind ungeheuer faszinierend und zeigen, dass unsere planetaren Landschaften sich weiter verändernde Ergebnisse einer extrem langen Geschichte sind – so wie wir Trockennasenaffen als Produkt und Teil der über 3 Milliarden Jahre alten Geschichte des Lebens. Vor etlichen hundert Jahren fiel dies auch Nicolaus Steno (über den Adam Cutler vor Jahren ein wunderbares Buch schrieb) auf am Beispiel von Muschelfossilien in den Bergen: er erkannte, dass dahinter grosse Verschiebungen stehen mussten (in diesem Fall eines ehemaligen Meeresgrundes), stellte sich gegen die herrschenden Lehrmeinungen und wurde so zum Mitbegründer der modernen Geologie.
Ich wünsche Dir einen guten Start in ein zauberhaftes Wochenende!
Liebe Grüsse von Jarg
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Darüber habe ich noch nie nachgedacht, aber du hast Recht. Ob es wohl einen Haushalt gibt, in dem nicht irgendwo ein mitgebrachter Stein liegt? Vielleicht sollte man Steine, ähnlich einer Flaschenpost, beschriften und wieder woanders ablegen, wo sie jemand findet, der seine Zeichen dazu schreibt und den Stein wieder woanders hinträgt. ……
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Steine beschriften wäre eine Idee. Zumal wir jetzt einen Teil der Steine in einer Gegend deponiert haben, in die sie nicht gehören. Wer weiß, welche Verwirrung das unter Geologen in 1000 Jahren auslösen wird? Da wäre so eine steinerne Botschaft mal etwas ganz anderes – am besten eingemeisselt, um den geologischen Prozessen zumindest ein bisschen Widerstand entgegensetzen zu können.
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Wenn man solche Gedanken spinnt wie du heute, so ist sicher was an deinen Überlegungen dran. Ich meine das mit der Evolution der Menschen in Bezug auf Steine sammeln. Überhaupt sammeln was auffällt. Den Sammler meine ich. Man nimmt ja nicht jeden Stein mit nach Hause. Verspürt doch jeder, das arbeiten des Gehirns, wenn man etwas entdeckt hat. Soll man das mitnehmen, soll man es lieber lassen…? Jarg, ich wünsch dir angenehme Arbeitsstunden um dann zu genießen! Ernestus
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Lieber Ernestus,
danke für die guten Wünsche. Mitterweile sind Hölzer zurechtgesägt und verlegt, Stützhölzchen verschraubt, alles ist geölt und der Heimwerker in mir emfindet eine tiefe Befriedigung in Anbetracht des vollbrachten Werkes.
Ja, das Sammeln steckt schon tief in uns drin. Und ich muss zugeben: wenn ich einen faustgrossen, perfekt glattgeschliffenen, schwarz schimmernden Kiesel im Wasser sehe, kann ich auch nicht anders und muss ihn zumindest in die Hand nehmen, wenn nicht gar heim. Nicht selten liegt ja im Sammeln und in der Betrachtung gesammelte Naturdinge auch die Vorstufe zur Erkenntnis – und sei es jene, dass es Prozesse gibt in der Natur (wie das entstehen eines wunderschönen Kiesels), die um ein vielfaches länger dauern als ein Menschenleben und mit den Maßstäben menschlicher Wahrnehmung nicht zu erkennen sind.
Verspätet, aber nicht weniger herzlich grüsst herzlich zurück der
Jarg
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