Der erste Blick täuscht uns. Worauf es ankommt, ist der zweite Blick, und der zeigt Folgendes: Wissenschaft beginnt immer noch mit rätselhaften Erscheinungen der Natur, aber sie wandelt sie nicht mehr in verständliche Antworten um, sondern in solche, die noch rätselhafter sind als das Ausgangsphänomen. Wissenschaft entwertet nichts, von dem, was sie erklärt. Vielmehr verwandelt sie die wundersamen Geheimnisse der Wirklichkeit in die noch größeren Geheimnisse ihrer Erklärung. Und mit dieser Einsicht kehren wir zur Ausgangsfrage nach der guten Antwort zurück. Eine vo der Wissenschaft gegebene Antwort ist dann gut, wenn sie den Fragenden ein Rätsel liefert oder Gedankenspiel eröffnet, mit dem sie sich anschliessend weiter beschäftigen können.(S. 72ff)
Es ist eines der großen Missverständnisse unserer Zeit, wenn davon geredet wird, dass die Naturwissenschaften der Welt den Schleier genommen und sie dadurch langweilig und fad gemacht, ja sie entzaubert haben. Tatsächlich haben die modernen Naturwissenschaften und die Romantik gemeinsame Wurzeln, ja sind ohneeinander kaum denkbar. Der Wissenschaftspublizist Ernst Peter Fischer zeigt in seinem Buch „Die Verzauberung der Welt“ anschaulich, dass Neugier und Staunen Triebfedern der Naturwissenschaft sind und das fortwährende Fragen einen wesentlichen Teil ihres Zaubers ausmacht. Naturwissenschaft lässt sich – ernsthaft betrieben – nicht auf schnöde Fakten und Erklärungen reduzieren. Dabei zeigt er etwa an zuweilen einfach erscheinenden Fragen wie der Frage nach dem Ursprung des Blaus im Himmel, dass mit einer erklärenden Antwort die Spannung erst beginnt, weil sich aus ihr immer neue Fragen ableiten lassen, auf die uns zum Teil noch die Antworten fehlen. Wie faszinierend ist es etwa, dass die moderne Quantenphysik davon ausgeht, dass die Bahn eines Elektrons erst dadurch entsteht, dass der Beobachter sie beschreibt!
Anschaulich zeigt er, dass es in der modernen Biologie und erst recht in der Physik auf die großen Fragen und Phänomene keine einfachen Antworten gibt, wahre Naturwissenschaft in einer nicht abreißenden Kette von Fragen besteht und sich aus jeder gegenwärtig schlüssigen Lösung eines naturwissenschaftlichen Problems zwingend weitere Fragen entwickeln. Dabei sprengt die Wirklichkeit zuweilen das menschliche Vorstellungsvermögen (wie bei der gleichzeitigen Teilchen- und Wellennatur des Lichtes) oder wird von unserem Wahrnehmungsapparat beeinflußt. Wissenschaft wird so zu einem fortwährenden Prozess des Staunens, der sich erneuernden und vertiefenden Fragen und des Mutes zum Scheitern lange bewährter Thesen und Theorie auf dem Weg zu den Geheimnissen unserer Welt.
Fischer belegt anschaulich, wie konstruiert die scheinbare Gegensätzlichkeit von Naturwissenschaft und Kunst ist, fordert vehement ein, der natürlichen ästhetische Neugier von Kindern in der Schule mit „Anleitung zum Staunen und Weiterfragen“ zu begegnen, statt sie mit Begrifflichkeiten zu langweilen. Dabei ist weniger das gut ausgestattete Labor, sondern das Sinnliche Erleben wesentlich für eine ästhetisch gefärbte Naturerfahrung und damit die Stärkung der Neugier und des Staunens, denn „die erstaunte Wahrnehmung lohnt mehr als das bestaunte Gesetz (S. 112)“. Fischer selbst belegt seine vom Staunen geprägte Sicht auf die Naturwissenschaften mit zahllosen Verknüpfungen, zieht mühelos Verbindungen von Physikern wie Bohr und Heisenberg, Einstein oder Newton zu Novalis, zu Heinrich von Kleist oder Lichtenberg. So wird aus seiner „Anleitung zum Staunen“, die naturgemäß an der Oberfläche bleiben muss und dennoch intellektuell so ungemein anregt, zugleich eine philosophische, ästhetische und poetische Betrachtung der Wissenschaft.
Fischer, der selbst nicht gläubig ist, dem der aggressivere Atheismus von Richard Dawkins aber eher suspekt erscheint, zeigt damit zugleich die spirituelle Dimension auf, die einem zutiefst naturwissenschaftlichen Weltbild innewohnen kann.
Auf den ersten Blick mag es deprimierend wirken, wenn es heißt, das Geheimnisvolle nimmt nur zu und das Mysterium der Welt wird immer tiefer, wenn man sich ihm wissenschaftlich und mit all seinem Wissensdrang nähert. Doch in der Mitte des Wortes Geheimnis steckt das Heim, das Menschen anstreben, und deshalb zeigt der zweite Blick mit dem romantischen Augenpaar, was wirklich passiert, wenn man die Möglichkeit nutzt, wissenschaftlich vorzugehen. Man kommt bei sich selbst an. Man findet zu sich selbst wenn man sich dem geheimen überlässt, und dieses Zu-Sich-Kommen zeigt, dass Wissenschaft nicht rein äußerlich ist (wie in der Philosophie immer wieder zu lesen ist). Wissenschaft kommt vielmehr von innen, von den Menschen und ihren Bedürfnissen selbst, und sie führt dorthin zurück. Man ist immer beides: auf dem Weg und am Ziel – genau das bedeutet Bildung. Sich um Bildung bemühen heißt, auf dem Weg zu sich selbst zu sein. So gesehen ist es einfach schön, dass wir nie ankommen. Der Weg ist das Ziel – und beide bleiben offen. (S. 318)
Fischer schreibt eloquent, fesselnd und verständlich und macht so die Lektüre zu einem spannenden intellektuellen Vergnügen, dass anregt zum Mit- und Weiterdenken. Ein wunderbares Buch für alle, die sich für die Naturwissenschaften interessieren, Wissenschaft als einen spannenden Weg, nie endenden Weg der Erkenntnis sehen und trotz allen Wissens (und Nichtwissens) fasziniert die Erscheinungen der Natur betrachten können.
Es gehört zu den Peinlichkeiten der öffentlichen Rede zur Kultur, dass immer noch die Frage aufgeworfen werden kann, ob die Naturwissenschaften zur Kultur gehören und zur Bildung von Menschen beitragen (S. 202)
Eine weitere, sehr treffende und empfehlenswerte Rezension findet sich übrigens auf dem Blog „Elementares Lesen“.
Pingback: Die Verzauberung der Welt – Ernst Peter Fischer | Binge Reading & More
Danke für den Hinweis auf Jargsblog in Zusammenhang mit diesem wunderbaren Buch!
LikeLike
Deine Empfehlungen rund um den Themenbereich Atheismus/Naturwissenschaften sind immer sehr interessant. Allein die Zeit fehlt, all das zu lesen.
LikeLike
Danke für das Kompliment: ich bin da als Pendler (zwei Stunden täglich) aber auch priviligiert und ziehe da viel Lektüre durch. Dafür bin ich leider immer spät daheim.
„Die Verzauberung … “ ist übrigens wirklich sehr lesenswert. Auch in Häppchen 😉
Herzlich grüßt
Jarg
LikeLike
Tolle Rezension und zack wieder eins für die Wunschliste und eins das ich ganz nach oben schupsen werde 😉
LikeLike
Oh, danke schön für das Kompliment! Und viel Freude und Anregung beim Lesen!
LikeLike