Kein einziges Glaubenssystem fordert die Menschen auf, das System in zweifel zu ziehen. Die Wissenschaft tut das. Skeptisch gegenüber den eigenen Ideen zu sein ist ihr Grundgedanke, denn man kann sich nie sicher sein, ob eine Theorie zu 100 Prozent korrekt ist. Aber man kann ihre Behauptungen überprüfen. Man muss sie sogar überprüfen (S. 149).
Schaut man sich den Buchmarkt an, das blühende Coachinggewerbe, den Boom der Datingportale oder die wachsende Verbreitung von Fitnesstrackern, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass offenbar alles im Leben nicht nur messbar, sondern planbar und beeinflussbar ist. Gleiches gilt für die unverwüstliche Unternehmensberaterbranche, den Erfolgszugs des Controllings und die hohe Aufmerksamkeit, die jede Art von Prognose oder Datenanalyse auf sich zieht. Karriere, Partnerschaft, Gesundheit, langes Leben auf der individuellen Seite, Unternehmenserfolg oder gesellschaftliche Veränderungen großen Stils scheinen alle perfekt planbar und machbar, wenn man nur genau analysiert, strategisch plant und sich anstrengt.
Vince Ebert, Diplom-Physiker, Ex-Unternehmensberater und heutiger Wissenschaftskabarettist, hält in vier Kapiteln über das Privatleben, die Arbeitswelt, die Welt der Wissenschaft und die Zukunft eloquent und tapfer dagegen und zeigt schlüssig, dass der Zufall und die Komplexität des Lebens einen wesentlich höheren Einfluss haben als die beste Planung. Das beginnt schon bei der Partnersuche und endet noch lange nicht bei Big Data und den groß angelegten Datenanalysen von Google und Co., die uns die Berechenbarkeit der Zukunft vorgaukeln und doch im besten Fall oft nur Korrelationen entdecken, die ursächlich gar nichts miteinander zu tun haben: so korrelieren der Absatz von Eiscreme und das Auftreten von Waldbränden in Kalifornien eng miteinander, stehen aber in keinem ursächlichen Zusammenhang miteinander. Zukunftsprognosen schlagen nachweislich regelmäßig fehl, weil sie auf Extrapolationen der Vergangenheit beruhen. In der Arbeitswelt suggerieren prominente Beispiele, dass Erfolg durch harte Arbeit für jeden erreichbar scheint. Tatsächlich gibt es viele, die ebenso hart arbeiten wie erfolgreiche Menschen, aber dennoch keinen Erfolg haben – sie werden bloß nicht wahrgenommen, weil sie darüber keine Bücher schreiben.
Ebert, der sich für dieses Buch durch über achtzig Quellen aus Biologie, Psychologie und Physik gearbeitet hat, zeigt überzeugend, dass das Leben eben nicht so planbar ist wie gedacht, die Selbstoptimierung an ihre Grenzen stößt und man besser daran tut, flexibel und vor allem kreativ zu bleiben. Beide Eigenschaften sind in einer durchstruktierten Gesellschaft wie der Deutschen zwar vorgeblich erwünscht, werden aber tatsächlich eher als Störfaktoren wahrgenommen. Dabei können wir nur mit ihnen die Herausforderungen und Überraschungen der Zukunft meistern – einer Zukunft, die wir eben nicht voraussehen können. En passant räumt er mit etlichen Klischeevorstellungen auf, betont die Rolle der immer stärker werdenden Kooperation und der komplexen Sprache für den menschlichen Fortschritt und vermag auch den von den Zeitläuften erschreckten Leser zu beruhigen, denn
Wir Menschen sind nicht ganz so schlecht. Unsere Empathiefähigkeit hat uns sogar im Laufe der Evolutionsgeschichte immer friedfertiger, freundlicher und sympathischer werden lassen. Das kann man sich mit Blick auf den deutschen Handwerker nicht vorstellen, aber es stimmt. Der Harvard-Professor Steve Pinker legt in seinem Buch „Gewalt“ detailiert dar, dass die Welt noch nie so friedlich und human war wie heute, auch wenn uns die Fernsehbilder etwas anderes suggerieren. Etwa 20 Prozent aller Steinzeitmenschen haben sich gegenseitig niedergemetzelt, wie Knochenfunde beweisen. Wenn Sie da als frühzeitlicher Fliesenleger die Höhle falsch durchgekachelt haben, zack – sind Sie erschlagen worden (S. 165ff).
Das wir das erreicht haben, ist auch dem Zufall zu verdanken. Denn es hätte auch alles anders kommen können, wenn ein paar zufällige Mutationen in unsrer Entwicklungsgeschichte anders gelaufen wären:
Der Evolutionsbiologe Steven Jay Gould war der Meinung, wenn die Erdgeschichte noch einmal abliefe, würden sich mit großer Sicherheit vollkommen andere Lebewesen auf unserem Planeten tummeln. […] Nur eine winzige Kleinigkeit in unserer Entwicklungsgeschichte, und Sie würden nicht gemütlich auf Ihrer Couch sitzen und dieses Buch lesen, sonern in einer nasskalten Höhle Algen von den Wänden lecken. Und damit denke ich nicht an eine Teilnahe am Dschungelcamp (S. 187
Vor dem Hintergrund von 200 Milliarden Sternensystemen in unserer Galaxie und möglicherweise nur 300 potentiell für Leben geeigneten Planeten unternimmt Ebert dabei auch Ausflüge in die Evolutionsgeschichte und die Entstehung des Kosmos und weist dabei dem Menschen seinen durchaus nicht einzigartigen Platz zu, der dennoch Staunen macht: schliesslich hätte es auch sein können, dass wir durch einen Zufall der Evolution gar nicht enstanden wären. Der Autor weiß sowohl mit seinem Buch als auch mit seinem Bühnenprogramm für Wissen zu begeistern und steckt einen mit seiner humorvollen, von Neugier und Wissensdurst geprägten Betrachtung der Welt im Allgemeinen und der durchschaubaren Psychologie und Biologie des Menschen im Besonderen schnell an. Ein ebenso gehaltvolles wie witziges Buch für alle, die Wissenschaft lieben und die Verbindung von Wissenschaft mit Humor zu schätzen wissen.
Wieder ein musthave. Schöner Mist. Meinem SuB zuliebe könntest du dein Augenmerk mal auf christliche Erbauungslektüre mit kreationistischem Hintergrund zuwenden? 😁
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Ja, ich halte schon Ausschau nach Titeln wie „Sei der Schlamm, aus dem Du kommst“. Vielleicht finde ich da was
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