Wer sich mit der Geschichte des Fahrrads näher befasst, kommt zuweilen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Mittlerweile ist es ja schon fast ein Gemeinplatz, dass die Erfindung der Drais’schen Laufmaschine auch durch die globalen Folgen des Tambora-Ausbruchs von 1815 beeinflusst und befördert wurde. Aber die Geschichte des Fahrrads bietet auch dem interessierten Fahrrad-Enthusiasten einige Überraschungen.
Hans-Erhard Lessing, Physiker und Technikhistoriker, befördert etliche unbekannte oder vergessene Fakten aus der mittlerweile 200jährigen Geschichte des Fahrrads ans Licht. Mag einem in technischer Hinsicht die Verbindung zu Nähmaschinenherstellern in den 1860er Jahren wenig überraschen und vielleicht bereits bekannt sein, dass das Fahrrad nicht unwesentlich die technischen Grundlagen für die Entwicklung des Autos schuf, so verblüfft einen die Erkenntnis, dass und warum sich der erste Boom des Fahrrads im späten 18. Jahrhundert negativ auf das Geschäft von Klavierbauern und Maßschneidern auswirkte.
Fahrradfahren polarisierte die Gesellschaft überdies für etliche Jahrzehnte: sowohl aus religiöser als auch gesundheitlicher Sicht schlug dem neuen Fortbewegungsmittel einiges an Widerstand entgegen. Abgesehen davon, dass die Infrastruktur selbst für das vor der Jahrhundertwende erfundene Sicherheitsrad unzureichend ausgebaut war, wurde an vielen Orten der Fahrradfahrer zum Schieben verdonnert und ihm das Fahren zum Teil polizeilich untersagt. Auch politisch kam dem Fahrrad eine immense Bedeutung zu, organisierten sich mit der Massenvelozipädisierung aufgrund der günstigeren Preise doch bald auch viele Arbeiter in Radsportvereinen und Radfahrverbünden, um nicht nur gemeinsam zu radeln, sondern sich auch unter Umgehung der Sozialistengesetze politisch bilden und betätigen zu können: Als Kontrapunkt zum Fahrrad als Prestigeobjekt des Bürgertums in den 1860er bis 1880er Jahren ist das ausgesprochen bemerkenswert.
Unstrittig ist die Bedeutung des Fahrrads für die Mobilität der werktätigen Massen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, die auch Lessing hervorhebt. Das Fahrrad hat dabei auch seinen Beitrag zur Emanzipation der Frauen geleistet, denen es gegen die Widerstände aus Politik, Ärzteschaft und Kirche in vielerlei Hinsicht mehr Bewegungsfreiheit verschaffte – letztlich auch in Fragen der Bekleidung. Lessing geht dabei auch auf die in einzelnen Ländern bis heute unterschiedliche Entwicklung des Fahrrads als Verkehrsmittel ein bis hin zur Renaissance des Fahrrads in Europa, die nahezu zeitgleich mit dem Niedergang der Fahrradkultur in Asien einhergeht.
Spannend ist bei dieser Renaissance auch der technische Einfluss von BMX-Rädern und vor allem Mountainbikes, die spätestens ab den 1980er Jahren zu vielen Innovationen beigetragen haben, die letztlich nicht nur zu einer Diversifizierung der Fahrradtypen, sondern laut Lessing zu wesentlichen, zum Teil aus dem Motorradbau übernommenen bzw. von ihm beeinflussten Verfeinerungen der Technik geführt haben, die heute weit zuverlässiger und leistungsfähiger ist als früher.
Auch wenn ich mir nicht selten mehr Bilder gewünscht hätte in diesem Buch: dem Autor ist eine komprimierte, gut zu lesende Technik- und Kulturgeschichte des Fahrrades gelungen, die mit etlichen verblüffenden und faszinierenden Fakten aufwarten kann. Allen Velonauten, Velosophen, Fahrradnerds und anderen vom Fahrrad begeisterten Menschen wärmstens empfohlen.