Wenn wir glauben, dass die Natur das Andere ist, ein angeblich reines Gefilde, verleugnen wir unser eigenes wildes Wesen. Doch die gepflasterten Gehwege, die Sprühfarben der Lackierereien oder die Stadtplanungsunterlagen in Denver verdanken sich der hochentwickelten Fähigkeit von Primaten, auf ihre Umwelt einzuwirken und sind darum genauso natürlich wie das Rauschen der Pappeln, der Schrei der jungen Wasseramsel nach Futter oder das Nest der Klippenschwalbe“ (S. 202).
Man kann Bäume wissenschaftlich betrachten, mit Messinstrumenten ausstatten, zählen, wiegen, analysieren, ihre Netzwerke mit anderen Organismen beobachten. Man kann sie in Beziehung zu den Menschen setzen, die sich in der Stadt unter Bäumen treffen, sich auf dem Land um ihr Wohlergehen im Interesse einer guten Ernte kümmern, im Wald unter ihnen Erholung suchen. Man kann sie poetisch und sinnlich betrachten, sich in ihre Wipfel setzen, um den Stadtgeräuschen und dem Klang der Regentropfen zu lauschen und sich im Anblick ihrer Borke oder einer zu verlieren. Und natürlich kann man den grossen Bogen über 400 Millionen Jahre ziehen und die wunderbare Unverzichtbarkeit von Bäumen für unter Öko- und Klimasystem aufzeigen.
Der Biologe David G. Haskell macht all dies – und noch viel mehr. Anhand von zwölf Baumarten – genauer: zwölf einzelnen Bäumen – spürt er nicht nur der Biologie der Bäume nach, sondern verdeutlicht auch ihre Rolle im jeweiligen Ökosystem, die Gefahren, denen sie durch Veränderungen wie Ölförderung, Stadtleben, politischem Streit um Wasser oder Vernachlässigung durch den Menschen ausgesetzt sind. Dabei bleibt Haskell nicht bei kurzer oberflächlicher Beobachtung stehen, sondern sucht etwa eine Pappel in ddggh immer wieder auf zu den unterschiedlichsten Jahreszeiten, verfolgt ihr vom Menschen beeinflusstes Wachstum und das städtische Leben um sie herum. Er spricht mit unterschiedlichsten Menschen und lässt den mit Wasser und moderner Technik ausgestatteten israelischen Olivenbauern ebenso zu Wort kommen wie sein archaisch arbeitendes palästinensisches Pendant. Die Trennung von Natur und Zivilisation, von Wildnis und Stadt hält er für obsolet: Überzeugend legt er dar, warum wir immer in der Natur und mit ihr sind, egal, wie sehr wie sie verändert haben und beeinflussen. Dabei bleibt er beileibe nicht bei den Bäumen, sondern bezieht belebte und unbelebte Natur mit ein. So findet Haskell auch in unseren auf den ersten Blick naturfernen Städten immer wieder Wildnis und leitet aus dieser überwundenen Trennung am Ende auch eine eigene Ethik ab, die sich sowohl von naturromantischen Idealen wie Versuchen, der Natur einen eigenen ökonomischen Wert zuzuschreiben, wohltuend abhebt.
Ökologische Ästhetik heisst, die Schönheit zu erkennen, die den nachhaltigen, eingeschriebenen Beziehungen bestimmter Bereiche der Lebensgemeinschaft innewohnt. Und zur Lebensgemeinschaft gehört auch der Mensch, der in dem biologischen Netzwerk verschiedene Rollen spielt: Beobachter, Jäger, Holzfäller, Bauer, Esser, Geschichtenerzähler oder Lebensraum für tödliche und symbiotische Mikroben. Ökologische Ästhetik ist keine Zuflucht in eine imaginierte Wildnis, in der der Mensch keinen Platz hat, sondern der erste Schritt zu einer allumfassenden Verbundenheit.
Unsere Ethik der Verbundenheit könnte in einer solchen ökologischen Ästhetik wurzeln. Wenn es in der Ökologie des Lebens eine objektive moralische Wahrheit gibt, die mehr ist als das Geplapper unserer Nerven, dann liegt sie in den Beziehungen, die das Netzwerk des Lebens ausmachen. Wenn wir wach und aufmerksam an den Prozessen des Lebensnetzwerks teilnehmen, dann achten wir darauf, was kohärent und was zerstörerisch, was schön und gut ist. (S. 170)
Haskell ist ein wunderbares Buch gelungen, das auch in der deutschen Übersetzung nichts von seiner Tiefe, seiner Poesie und seinem wissenschaftlichen Wert missen lässt und einen bei der Lektüre so fesselt, das man reicht beschenkt aus dem Buch auftaucht und am Ende einen anderen, intensiveren Blick auf die Natur, in der wir sind, erhalten hat. Ein Buch, dass ich ausgesprochen gerne all jenen empfehle, die besondere Sachbücher zu schätzen wissen und sich gerne den Blick weiten lassen.