Im 20. Jahrhundert begannen wir Menschen, unsere Umgebungen, unsere Gesellschaften und sogar uns selbst umzugestalten. Ohne es wirklich zu wollen, haben wir Veränderungen eingeführt, die so rasch und massiv waren, dass unsere Art gewissermaßen zu einer neuen geologischen Kraft wurde. Aus diesem Grund vertreten viele Wissenschaftler die Auffassung, der Planet Erde sei in ein neues geologisches Zeitalter, das Anthropozän oder das „Zeitalter der Menschen“ eingetreten. Es ist das erste Mal in der vier Milliarden Jahre währenden Geschichte der Biosphäre, dass eine einzige biologische Art zur beherrschenden Kraft der Veränderung geworden ist. In nur ein oder zwei Jahrhunderten sind wir unversehens in die Rolle von Piloten gedrängt worden, die den Planeten lenken sollen, ohne wirklich zu wissen, welche Instrumente sie im Auge behalten, welche Knöpfe sie drücken und wo sie landen sollen. Es ist Neuland für uns Menschen und für die gesamte Biosphäre (S. 292).
In der Vergangenheit kam kaum jemand auf die Idee, die Geschichte unseres Sonnensystems, unseres Planeten und des Lebens, das darauf entstand, mit der etwa 200.000jährigen Geschichte der menschlichen Zivilisation und ihrer Zukunft zu verbinden. Der von dem australischen Historiker David Christian geprägte Begriff „Big History“ steht eben für diese These und umfasst die Suche und Analyse von universellen Trends und Mustern. Erkenntnisse aus Astronomie, Physik, Chemie, Geologie und Paläontologie fliessen dabei ebenso mit ein wie Ergebnisse aktueller Geschichtswissenschaft, Archäologie, Genetik und Anthropologie. Christian betreibt mit Unterstützung der Bill-Gates-Stiftung das „Big-History-Projekt“, dass sich an einem Gesamtüberblick zur Geschichte des Universums bis hin zur Entwicklung der Menschheit versucht.
Ausgehend vom Urknall, beginnt Christian mit der Entwicklung des Kosmos vom Urknall über die ersten Sterne und neue Elemente bis hin zu Molekülen und Monden. Bereits hier postuliert er verschiedene Schwellen hin zu einer komplexeren Entwicklung, beginnend mit Schwelle 1 beim Urknall bis hin zu Galaxien, Schwarzen Löchern, Sonnen, Gas- und Felsplaneten und all den anderen komplexen Strukturen im All. Schwelle 5 ist für ihn mit der Entstehung des Lebens erreicht, das zunächst sehr klein begann, um sich dann in größeren Einheiten auszubreiten und dabei immer wieder an veränderten Systemzuständen zu scheitern drohte, wie etliche große Artensterben in der Geschichte des Lebens auf der Erde deutlich machen. Er verbindet seine Ausführungen dabei geschickt mit Ausflügen in die Wissenschaftsgeschichte und macht dabei Erkenntnisprozesse deutlich, die zum heutigen Wissen führten. Deutlich wird, dass das Leben etwas Neues war und sich als neue Form der Komplexität etablierte, die sich im unablässigen Bestreben, trotz unberechenbarer Umgebungen am Leben zu bleiben und sich selbst zu vervielfältigen, gegen die allgemeine Entropie wendet – mittels Information.
Das Vorhandensein (oder vielleicht die Illusion) von Zweckhaftigkeit ist neu. Sie ist kein Merkmal der komplexen Entitäten, die wir bislang betrachtet haben. Hat es irgendeinen Sinn zusagen, Sterne hätten einen Zweck? Oder Planeten oder Steine? Oder selbst das Universum? Nicht wirklich, zumindest nicht innerhalb der Konventionen der modernen Ursprungsgeschichte. Doch bei Lebenwesen verhält es sich anders. Sie sind nicht bereit, die Regeln der Entropie passiv hinzunehmen, sondern verhalten sich wie dickköpfige Kinder – sie wehren sich und suchen nach Bewältigungstrategien. Sie geben sich nicht damit zufrieden, sich wie Protonen oder Elektronen zu starren Strukturen zusammenzuschließen: sie leben auch nicht von Energiespeichern wie Sterne, die sich durch eine bei ihrer Geburt wohlgefüllte Vorratskammer von Protonen fressen, um zu sterben, wenn die Kammer leer ist. Lebende Organismen suchen ständig nach neuen Energieflüssen, um einen Zustand aufrechtzuerhalten, der zwar komplex, aber instabil ist. Das ist nicht das Verhalten von Steinen, sondern von Vögeln im Flug. Lebende Organismen bleiben (thermodynamisch verstanden) in der Luft, in dem sie die freie Energie aufnehmen, die sie brauchen, um ihre Atome und Moleküle immer wieder zu den Mustern anzuordnen, die ihr Überleben garantieren. Sobald sie die Steuern der Entropie nicht mehr bezahlen können, gehen sie zugrunde (S. 89)
Mit dem Auftreten des Tieres „Mensch“ wurde laut Christian Schwelle 6 erreicht: das Ausmaß der Komplexität war für die kleinen, über die Welt verstreuten menschlichen Gemeinschaften noch überschaubar, der Einfluss auf die Biosphäre gering. Aber die kulturelle Evolution, die die Lernfähigkeit einzelner Menschen und ihr historisches Gedächtnis durch kulturelles Lernen erweitert hat, hat als nicht-biologische Form der Anpassung den Menschen eine weitere Möglichkeit zur Weiterentwicklung gegeben.
Wie eine Goldader schenkte uns das kollektive Lernen einen ungeheuren Reichtum an Informationen über Pflanzen und Tiere, über Bodenbestellung, Feuer und chemische Stoffe, über Literatur, Kunst, Religion und andere Menschen. Obwohl ein gewisser Teil der Information mit jeder Generation verloren ging, füllten sich auf lange Sicht die Informationsspeicher der Menschheit, und dieser wachsende Erkenntnisreichtum wurde zum Motor der menschlichen Geschichte, indem er uns Zugang zu wachsenden Energieflüssen verschaffte (S. 199).
Als der Mensch schliesslich über die Etablierung der Landwirtschaft begann, starken Einfluss auf die Biosphäre zu nehmen und damit Schwelle 7 zu überschreiten, beginnt er, den Planeten umzugestalten. Heute stehen wir laut Christian an der Schwelle 8 und bereits mitten im Anthropozän: der Menschen hat begonnen, den Planeten massiv zu verändern und die für ihn beeinflussbaren Energieströme massiv auf seine Bedürfnisse umzuleiten – mit massiven Folgen für die gesamte Biosphäre. Mittlerweile übersteigt die Biomasse der für die menschliche Nutzung gehaltenen Säugetiere die Biomasse der wilden Landsäugetiere um ein Vielfaches, schwinden die nicht dem Menschen zur Verfügung gestellten Flächen und Ressourcen in atemberaubender Geschwindigkeit. Klimawandel, Artenschwund und Umweltverschmutzung als Herausforderung steht eine nie erreichte Komplexität menschlichen Wissens, gesellschaftlicher Vielfalt und technischer Spezifizierung gegenüber.
Bezüglich der Zukunft des Universums ist Christian zuversichtlich: es wird sich weiterentwickeln und schliesslich auf die eine oder andere Weise zugrunde gehen. Ob der Mensch sich lange auf dem Planeten halten kann, wird sich aber noch zeigen: Christian zeigt mögliche Szenarien auf, die von einer nachhaltig „bewirtschafteten“ Erde bis hin zu einer von der entstandenen und selbst beförderten Komplexität überforderten und letztlich untergehenden Menschheit reichen. Sein Verdienst ist, dass er den Menschen und seine Entwicklung in sehr viel größere Zusammenhänge stellt – und zugleich deutlich macht, dass wir Verantwortung für den Planeten übernehmen müssen, wenn wir überleben wollen. Selten wurden Naturgeschichte und Geschichte spannender miteinander verknüpft: „Big History“ zählt zu jenen Sachbüchern, die ebenso faszinierend wie intellektuell anregend sind und einen ebenso faszinieren wie berühren. Für mich eines der wichtigsten und schönsten Bücher der letzten Monate.