Mittlerweile bricht mir nicht nur dann der Schweiß aus, wenn in Großbritannien chaotische Zustände herrschen, sondern auch, wenn in Deutschland die Große Koalition zu scheitern droht. Auch ich habe großes Interesse an der Zukunft Deutschlands. ich finde es ungemein schmerzhaft, dass heute im Bundestag Menschen sitzen, die aussehen, als lutschten sie unablässig Zitronen, und die sich mit perlen behängen und in Tweed kleiden wie falsche britische Sdlige, und manchmal habe ich Angst um die Zukunft. Aber zweifelsohne bin ich heute, wo das Austrittsdatum näher rückt, gefühlt ein kleines Stückchen weiter abgerückt vom Vereinigten Königreich und seinem Selbstverstümmelungsprozess, als ich das noch am 24. Juni 2016 war, dem Tag nach dem Referendum (S. 290)
Die 1971 in Großbritanien geborene Kate Connolly lebt seit über 15 Jahren in Deutschland, ist Journalistin und berichtet unter anderem für den Guardian. Das Brexit-Referendum von 2016 treibt nicht nur einen Keil in ihre britische Familie, sondern führt auch dazu, dass sich die mit deutschen Mann und Kindern in Berlin lebende Connolly als überzeugte Europäerin mit Wahlheimat Deutschland Gedanken über ihre zukunft macht. Rasch ist der Gedanke da, für sich die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen und gleichzeitig den Kindern britische Pässe zu besorgen. Das hat Folgen: Connolly schildert in ihrem Buch nicht nur ihren Weg zum deutschen Pass und die Differenzen mit ihren zur Leave-Fraktion gehörenden Eltern. Zugleich setzt sie sich intensiv mit dem Thema an sich auseinander.
In ihrem melancholischen, mit britischem Humor gefärbten Bericht über den Prozess ihrer „Deutschwerdung“ geht sie umfassend auf den gesamten Brexit-Prozess ein, analysiert kritisch die Positionen und Meinungen auf britischer Seite, nimmt die Argumente der Leave-Befürworter ebenso auseinander wie Theresa Mays planloses Agieren. Dabei wird sichtbar, wie stark der Brexit mit der Geschichte der ehemaligen Großmacht England verbunden ist, in der insbesondere der Beitrag zum Kampf gegen Nazideutschland bis heute ein stark identitätsstifender, aber eben auch nostalgisch verklarender Part ist. Neben der politischen Analyse werden auch die alltäglichen, zum Teil seltsam erscheinenden kulturellen Unterschiede sichtbar – ebenso wie die Gemeinsamkeiten. Das alles wird gespiegelt in Connollys persönlicher Geschichte einer Britin, die sich und ihre Familien durch die befürchteten Folgen des Brexits laviert, um am Ende zwar stolz einen deutschen Pass in der Hand zu halten, aber doch mit der Europamüdigkeit des Herkunftslandes zu hadern: sie setzt sich dabei auch mit Begriffen wie Heimat, Identität, Kultur auseinander. Es ist deutlich spürbar, wie sehr Connolly die gegenwärtige Krise Europas bedauert und hofft, dass der gegenwärtig zu beobachtende Trend zum Rückzug auf den Nationalstaat sich wiede rumkeheren möge.
„Exit Brexit“ ist ein sehr persönliches, zugleich aber auch überaus faktenreiches, anregendes, um viele Nuancen und Aspekte bereichertes Buch über die Brexit-Krise, deutsche und britische Alltagskultur, Politikstile und Mentalitäten – und letztlich auch ein Buch über Europa. Wie es war, ist … und sein könnte. In diesen Zeiten der großen Vereinfacher rund Populisten, die sich auch i8m Europaparlament auszubreiten drohen, ein überaus lesenswertes Buch.
Klingt nach einem guten Tipp für einen, der sein aus der Ferne geliebtes Britannien gerne wieder so hätte wie in seinem Englisch-Lehrbuch aus den 70ern. So mit Milchflaschen vor der Tür zum Reihenhaus und five o clock Tea.
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Sehr lesenswert. Und ob jetzt ein harter Brexit im Herbst kommt oder was auch immer: ich hoffe, die Briten finden auf mittlere Sicht nach Europa zurück.
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