Ich sage nichts, für mich gibt es darauf nichts zu sagen, denn natürlich erinnere ich mich. Es ist zwar Ewigkeiten her, kaum noch wahr, aber damals – ganz zu Anfang unserer Beziehung – hatte ich tatsächlich Frauke gegenüber einmal voller Großmut verkündet, dass wir beide uns unbedingt alle Freiheiten nehmen sollten, die wir für nötig erachteten. Das Leben sei kurz, warum sich einschränken, Freiraum für Experimente müsse zwischen uns selbstverständlich sein …“
Steen ist seit Jahren in den Medien allgegenwärtig: der erfolgreiche Autor und Intellektuelle, dessen Hauptthema „Anstand“ ist, wird regelmäßig von den Medien konsultiert, interviewt und in Talkshows geladen, wenn es aus aktuellen gesellschaftlichen oder politischen Anlässen heraus um Fragen von Moral, Aufrichtigkeit und Haltung geht. Mit seiner Familie – der erwachsenen, im Ausland studierenden Tochter Bea und der Psychologin Frauke, lebt er in Hamburg. Seine Bücher aber schreibt Steen auf einer abgelegenen dänischen Insel, auf der ein ausgebautes Ferienhaus besitzt und bis auf seltene Besuche Fraukes allein ist. Sein Leben scheint in geordneten Bahnen zu verlaufen und Stehen – laut Frauke der „Anstandsonkel der Nation“ – fühlt sich in seiner Rolle als gefragter Philosoph durchaus wohl, ist sich seiner selbst stets sicher
In einem sonnigen Herbst erhalten Steen und Frauke Besuch auf der dänischen Insel: seine alte Freundin, die Vertragsvertreterin Ute, und ihr attraktiver Lebensgefährte, der IT-Spezialist Gero, kommen mit einem teuren Segelboot von Rostock rausgefahren. Schnell fühlt sich Steen herausgefordert von dem in seinem Empfinden angeberischen Auftreten Geros und bleibt zwar freundlich, aber distanziert und zum verbalen Angriff bereit. Aus dem Gleichgewicht bringt ihn dann eine Erinnerung Fraukes an ein Versprechen, dass sie sich in jungen Jahren gegeben haben. Das zunächst so harmlos erscheinende Treffen beider Paare wird für Stehen zur belastenden Herausforderung: Plötzlich scheint alles um ihn herum eine bedrohliche Bedeutung zu haben, und wo er andere immer an das richtige Verhalten gemahnen kann, scheitert er selber aus plötzlicher Eifersucht und maßloser Selbstgerechtigkeit. Eine verhängnisvolle Entwicklung nimmt ihren Lauf, die seine Welt für immer verändern wird.
Jan Christophersen, der mich vor etlichen Jahren mit seinem Romandebüt „Schneetage“ begeisterte, gelingt mit „Ein anständiger Mensch“ ein inhaltlich und sprachlich überzeugender Roman um einen – entfernt an den allgegenwärtigen Richard David Precht erinnernden – Berufsintellektuellen, dessen Selbstgerechtigkeit als Moralinstanz der Nation durch eine Vielzahl kleiner, ins Unglück führender Volten ins Wanken gerät, bis er sich am Ende als tief in persönlicher Schuld verstrickt sieht und sein gewohntes Leben eine radikale Wendung nimmt. Die Geschichte, die aus der Sicht von Steen erzählt wird, ist stimmig aufgebaut, zeichnet sich durch glaubhafte, authentisch wirkende und psychologisch überzeugend gezeichnete Charaktere und sich en Passant auch mit Fragen nach Verantwortung, Streitkultur und intellektueller Selbstüberschätzung beschäftigt. Wie bereits bei „Schneetage“ weiß Christophersen seine minimalistisch aufgebaute Erzählung mit ausgesprochen schönen Landschaftsbeschreibungen zu verbinden, während die sorgfältig, fast minimalistisch beginnende Geschichte den geneigten Leser rasch in ihren Sog nimmt und bis zum Ende nicht loslässt.