„Wenn er sich am Abend hinlegte, um zu träumen und seine Seele über das Eis fliegen zu lassen, strebte er ihr entgegen, denn sie erwartete ihn am Pol. Im Logbuch taucht ihr Name kein einziges Mal auf. Er brachte keinen langen Klagelieder über ihre Abwesenheit zu Papier, aber das Gefühl durchdringt seine Zeilen, so als hätte sie hinter ihm gestanden, wenn er am Schreibtisch saß, und ihm eine hand auf die Schulter gelegt, so als befänden sie sich daheim im Wohnzimmer und nicht in einem Kämmerlein am Rand der Zivilisation, am Ende der bekannten, kartographierten Welt“ (S. 109)
England, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Polarforscher Edward Mackley bricht mit seinen Gefährten auf dem Schiff Persephone auf, um als erster Mensch den Nordpol zu erreichen. Zurück in England bleibt seine Frau Emily, die im Haus seines verheirateten Schwagers John auf die Rückkehr von Edward wartet. Doch der Forscher kehrt nicht zurück, sondern verschwindet in den Weiten der Arktis. Emily aber scheint nicht aufzugeben und wartet sechzig Jahre lang: erst kurz vor ihrem Tod erreicht sie zusammen mit seinem Tagebuch die Nachricht, dass Edwards Leiche im Permafrost gefunden wurde.
Über einhundert Jahre später lebt Edwards Großnichte Julia mit ihrem Mann Simon im alten Haus der Mackleys: fasziniert von der Geschichte Edwards und von Emilys lebenslangem Warten, sichtet sie an einem brütend heissen Augusttag die Tagebücher, Briefe und andere Hinterlassenschaften aus dem Nachlass der beiden. Während sie gedankenveroren liest, im Garten liegt oder durch das Haus streift, ist sie ganz gefangen in der Geschichte des Paares: Immer näher kommt sie dem scheiternden Nordpolforscher und seiner wartenden Witwe, taucht ab in zwei durch tragische Umstände gekennzeichnete Leben und in die kalte, weite und einsame Welt der Arktis.
Dabei fällt Julia mehr und mehr aus der Gegenwart, versetzt sich gedanklich in die Weite der Arktis und ihrev reduzierten Farben und entkommt damit scheinbar ihren unerfüllten Wünschen, ihrer Einsamkeit, verdrängt die ersten zarten Spannungen in der Liebe zu Simon. Erst eine entscheidende Entdeckung reisst sie aus ihrer forschenden Lethargie: sie entdeckt, dass es mehr gab als Emilys lebenslanges Warten auf ihren verschollenen Mann. Diese Entdeckung verändert ihr Leben entscheidend und führt letztlich zur Wende in der zu erkalten drohenden Liebe zwischen Simon und ihr:
„Manche Geheimnisse sind geduldig und können ein Jahrhundert auf ihre Entdeckung warten; sie scheinen so solide, dass man auf sie baut, und vielleicht tragen sie gar; aber fast ein tierischer Instinkt warnt uns, sie könnten eines Tages doch nachgeben. Seien wir also nicht überrascht über die Kälte, die an Julia hinaufkriecht und die einer Panik gleicht. Sie hat darauf gewartet, ohne zu wissen, dass es etwas zu wissen gab. Häte sie genauer hingesehen, hätte sie es selbst in ihren Augen entdeckt, im Spiegel; aber wozu hätte sie ausgerechnet dort nach einem Geheimnis suchen sollen?“ (S. 258)
Amy Sackville ist mit „Ruhepol“ etwas Wunderbares gekungen: sie verschränkt nicht nur sorgfältig und mit zunehmender atmosphärischer Verdichtung zwei zeitlich weit voneinander entfernt liegende Geschichten aus einer Familie miteinander, sondern bringt das Eis – die Folie, vor der sich das Drama von Edward und Emily abspielt – auf eine andere, im besten Sinne sentimentale Ebene: als Metapher für Emilys Einsamkeit als Witwe eines verschollenen Mannes ebenso wie als Sinnbild für die vom Erkalten bedrohte Ehe von Julia und Simon. Kontrastierend dazu lässt sie die Geschichte von Julia und Simon an einem brütendheissen Augusttag spielen: während Simon, von der Hitze wie in einem Fieber gefangen, Entfremdung und Kälte zwischen sich und seiner Frau wahrnimmt und vor einer möglicherweise fatalen Entscheidung trägt, treibt Julia in der Hitze und in ihrem von Erinnerungen angefüllten Haus immer tiefer in eine eisige, doch faszinierende Vergangenheit und entdeckt dabei einen alles verändernden Blick auf sich selbst.
Das einige Male wiederkehrende Motiv des seltenen Schmetterlings, den Edward einst fand und für Simon der Anlass zur ersten Begegnung mit Julia war, schafft dabei eine zarte Verbindung zwischen den beiden ungleichen Liebesgeschichten und ein Symbol für die Zerbrechlichkeit des Lebens und des entscheidenden Augenblicks zugleich:
„Pudrig schimmernde Bronze, die am Rand in feinsten Äderchen zu Indigoblau verläuft, genau wie deine Augen, sagte er, Mazarine, ein weiblicher Rotklee-Bläuling, sagte er, du bist das letzte Exemplar in ganz England, und dann errötete er. Das Wort ein geschenk, er gab es mir und ich habe es nicht vergessen, Mazarine, irgendwo zwischen einem uralten Meer und einem azurblauen Himmel.“ (S. 60).
Amy Sackville hat einen hervorragend aufgebauten Roman geschrieben, der in der deutschen Übersetzung sprachlich sehr ansprechend und überzeugend ist. Sackville versetzt sich tief in die Gefühls- und Vorstellungswelt ihrer vier Hauptprotagonisten, ohne ihnen durch zu viele Enthüllungen und Details ihr Geheminis zu nehmen. Überzeugend baut sie ihre Geschichte auf und zieht den Leser schnell in den Bann der beiden miteinander verschränkten Erzählstränge, fängt ihn ein mit ihren Worten über sowohl emotionale als auch arktische Landschaften und den Räumen dazwischen.
Ein wundervolles, melancholisches Buch, das mich sehr bewegt hat und für mich bereits jetzt ein klarer Anwärter auf meine persönliche Bestenliste der Leseerlebnisse 2013.
Anwärter auf deine persönliche Bestenliste 2013 – das ist natürlich ein starkes Fazit! An mir ist das Buch vorbeigegangen, nun werde ich es mir auf jeden Fall notieren. Merci für die Empfehlung!
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Gern geschehen. Ich hoffe, die Lektüre beeindruckt dich ebenso wie mich.
Herzlich grüsst
Jarg
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Herzlichen Dank für diese tolle Besprechung, lieber Jarg! 🙂 Das Buch hatte ich letztes Jahr auf meinem Radar, es dann aber doch nicht gekauft. Das werde ich nun DRINGEND nachholen.
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Ich bin gespannt, wie du es findest. Ins deutsche Feuilleton hat es der Titel nicht geschafft – ich finde, er hätte allein schon aufgrund der Sprache mehr Aufmerksamkeit verdient.
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Reblogged this on Ulla Keienburg s Blog und kommentierte:
Mit Dank an Jarg!!! Was für ein Buchtipp!
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Danke schön für das Rebloggen und das freundliche Wort! 🙂
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Immer wieder gern!
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