Grummelige Stimmungen, Freude, Unsicherheit, Wohlbefinden oder Sorgen kommen nicht nur isoliert aus dem Schädel. Wir sind Menschen mit Armen und Beinen, Geschlechtsorganen, Herz, Lingen und Darm. Die Verkopfung unserer Wissenschaft hat uns lange blind dafür gemacht, dass auch unser Ich mehr als das Gehirn ist. Die Forschung am Darm hat in letzter Zeit einiges dazu beigetragen, den Spruch „ich denke, also bin ich“ vorsichtig zu hinterfragen. (S. 148)
Über den Darm, dieses im Untergrund seine Arbeit verrichtende Organ, von dem wir nichts hören, spüren oder anderweitig wahrnehmen wollen, redet man doch nicht, oder? Jedenfalls hatte ich bisher nicht das Gefühl, dass der Darm zum Smalltalk-Repertoire auf Partys oder in S-Bahn-Zügen gehört, ja plötzlich zum Thema unter Arbeitskolleginnen und -kollegen könnte. Das hat sich geändert. Plötzlich ist der Darm Thema, redet man darüber beim Morgenkaffee am Arbeitsplatz oder am Frühstückstisch daheim. Man stellt sich Hocker ins Klo und der Konsum von Frühlingszwiebeln, Lauch und kaltem Reis steigt. Jedenfalls bei uns.
Verantwortlich dafür, dass der Darm zum Thema wird, ist die derzeit promovierende Wissenschaftlerin Giulia Enders. Vor zwei Jahren erhielt sie den 1. Preis des Science Slam in Freiburg, Berlin und Karlsruhe – und ihr Vortrag „Darm mit Charme“ wurde zum Hit auf Youtube. In „Darm mit Charme“ führt sie uns die wunderbaren Fähigkeiten des Darms vor, seinen Aufbau, seine Wechselwirkungen mit anderen Organen und den Lebenwesen, die in uns wohnen und ohne die wir sterben würden:
Weil Bakterien viel kleiner sind als wir, sehen sie Essen aus einer ganz anderen Perspektive. Jedes Körnchen wird da zu einem unfassbaren Event, ein Kometbrocken voller Köstlichkeit. Alles, was wir nicht im Dünndarm aufnehmen können, nennen wir Ballaststoffe. Dabei sind sie gar keine unnötigen Lasten, zumindest nicht für unsere Bakterien im Dickdarm. Sie lieben Ballaststoffe. Nicht alle Sorten, aber manche. (S. 263)
Enders taucht dabei tief in die aktuellen Forschungen ein und berichtet über faszinierende Erkenntnisse und daraus resultierende neue Fragen, die nicht nur unser Bild vom Darm auf den Kopf stellen, sondern erstaunliche Zusammenhänge zwischen dem Darm und unseren Krank heiten, aber auch unserem Denken und fühlen aufzeigen. Sie beschäftigt sich mit dem Aufbau des Darmrohrs vom Mund, Zunge, Speicheldrüsen und Speiseröhre über den Magen bis hin zu den Verabeitungsprozessen im Darm und den erstaunlichen Abläufen bei seiner Entleerung. Dabei präsentiert sie verblüffende Fakten von der Menge des Speichels, seiner Aufgabe über die Schluckreflexe bis hin zum tasächlichen Ort des Magens und seinem erstaunlichen Aufbau und der Tatsache, dass Magenknurren tatsächlich nicht für Hunger steht, sondern aus dem Darm kommt und für beginnende Selbstreinigungsprozesse desselben steht: was problematisch wird, wenn wir ständig Essen nachwerfen udn so den Darm in seinen natürlichen Abläufen behindern.
In den Fokus nimmt sie auch, wie wir k*****, was Intoleranzen und Allergien bedeuten, welche den Wechselwirkungen mit dem Gehirn und am Ende mit dem Kosmos in uns es gibt: der Darmflora, Milliarden von Bakterien und damit auch mit den Krankheiten, die durch eine gestörte Darmflora ausgelöst werden können. So scheint es mittlerweile nicht mehr unwahrscheinlich, dass eine gestörte Darmflora bei Depressionen, Autismus, Übergewicht oder Schizophrenie eine Rolle spielen kann. Der Darm und was in ihm geschieht, bleibt nicht ohne Wirkung auf unsere Gefühle, unser Denken, unsere Sicht auf die Welt – auch wenn wir das vielleicht ungern wahrhaben wollen.
Wir können mittlerweile vermuten: ähnlich wie uns die große Welt beeinflusst, in der wir leben, beeinflußt uns auch die klein Welt, die in uns lebt. (S. 166)
Dabei deutet sich auch an, dass es keine einfachen Lösungen gibt oder DEN Ernährungstipp für jedermann, gibt es doch regionale Unterschiede in der Darmflora, die ein gesundes Lebensmittel für einen Europäer eventuell für einen Asiaten eher ungeniessbar machen, wofür nicht allein die Gene, sondern ganz erheblich die Unterschiede in der Darmflora verantwortlich gemacht werden. Erstaunlicherweise arbeitet man bei bestimmten Erkrankungen schon erfolgreich mit Transplantationen von Darmflora in Form von aufbereitetem Stuhl. Die Forschung an dem Mikrobiom – also der Gesamtheit aller Gene, die in unseren immerhin 2 kg Darmbakterien stecken, und damit an den möglichen Wechselwirkungen mit dem Körper ist aber noch in den Anfängen:
Die Wissenschaft hat mit dem Mikrobiom ein Problem, dass die Generation Google gerade auch hat: Wir stellen eine Frage – und sechs Millionen Quellen antworten uns gleichzeitig. Da sagt man nicht einfach „Jetzt jeder nocheinmal einzeln“. Wir müssen kluge Bündel packen, deftig aussortieren und wichtige Muster erkennen. (S. 182)
Giulia Enders ist ein bemerkenswertes Buch gelungen, dem mit Recht viel Aufmerksamkeit zukommt: mit Esprit, erfrischender Sprache, spürbarem Respekt vor und Leidenschaft für ihr Forschungsobjekt führt sie uns „durch die Hintertür“ in eine faszinierende Welt. Eine Welt, die in jedem von uns ist. Die unkonventionellen, witzigen Illustrationen ihrer Schwester tragen einiges zur Wirkung des Buches bei und unterstützen Bestreben, uns Wissen über den Darm zu vermitteln und ihn uns letztlich sympatisch zu machen.
Wer „Darm mit Charme“ liest, wird dem Darm allgemein und dem eigenen speziell mit großer Bewunderung begegnen und sich diesem unterschätzten Körperteil mit größerer Achtung begegnen und sich verändern: denn dem Darmrohr ist es nicht egal, was wir oben in uns reinstopfen – und uns sollte es auch nicht egal sein, denn es hat Auswirkungen – so oder so. Für mich in der Kategorie Sachbuch ein in diesem Jahr wirklich herausragendes Buch, das ich sehr gerne weiterempfehle. Doch Vorsicht: es könnte sein, dass sie nach der Lektüre zur Belustigung ihrer Familie darauf bestehen, einen Hocker auf der Toilette zu haben.
Menschen, die sich die Mühe machen, interessante, wissenschaftliche Inhalte unterhaltsam und verständlich an die geneigte Person zu bringen, sind wirklich Helden, die zu Recht gefeiert werden!
So wichtig wie ein Arzt für die Gesundheit ist meiner Ansicht nach, dass ich zumindest einigermaßen interpretieren kann, was mein Körper braucht und was nicht. Im modernen Alltag wird das ja nicht einfacher und dies Buch kann vielleicht dabei helfen, auch wenn das Thema komplex ist und für jeden Menschen individuell anders.
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Liebe Regina Berndt,
zum Glück gibt es immer wieder solche Bücher und vermehrt auch von deutschen Autoren, war das populäre Sachbuch doch früher eine Domäne englischsprachiger Wissenschaftler und Journalisten. Das Buch von Giulia Enders zeichnet sich eben dadurch aus, Wissenchaft spannend in den Bereich des allgemein Verständlichen zu transponieren und damit auch die Begeisterung für Wissenschaft an sich zu verdeutlichen – und zu wecken!
Herzlich grüsst
Jarg
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Wenn ich recht verstehe, geht es mit uns gefühlsmässig vielleicht nicht gut, weil es dem Darm nicht gut geht und nicht umgekehrt. Das habe ich nicht gewusst. Danke für diese interessante Vorstellung dieses Buches.
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Liebe Martina,
ja, so könnte man es beschreiben. Jedenfalls steigert die Lektüre das Bewußtsein dafür, was da für ein wunderbares Organ (inklusive Milliarden Mitbewohnern) in uns seinen Dienst verrichtet.
Liee Grüsse von
Jarg
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Danke für die tolle Besprechung. Obwohl Julia Enders ein Tabuthema beschreibt, ist das Buch weder vom Inhalt noch von der Covergestaltung her peinlich. Ganz im Gegenteil: es ist großartig und absolut lesenswert – es zu besprechen fiel mir nur schwer. Du hast das richtig gut hingekriegt. Schönen Sonntag!
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Danke schön, liebe Masuko, für das Kompliment 🙂
Liebe Grüsse – etwas verspätet aufgrund von Kommentarstau – von
Jarg
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Pingback: Sonntagsleser: Blog-Presseschau 11.05.2014 (KW19) | buecherrezension
Eine schöne Rezension! Besonders gut gefällt mir die „durch die Hintertür“- Doppeldeutigkeit 😀
Lieben Gruß, packingbooksfromboxes
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Tja, die Hintertür. Darauf eine Frühlingszwiebel. Im Ernst: das Buch schafft den Balanceak wunderbar, den solch ein „peinliches“ Thema oft auslöst und ist witzig und lehrreich zugleich, ohne je zotig zu werden. Was will man mehr.
Liebe Grüsse von
Jarg
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Schon interessant: Gestern gerade bin ich in einer Buchhandlung über dieses Buch „gestolpert“, heute finde ich diesen Artikel darüber.
Klasse und: DANKE!
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Gern geschehen! Ich hoffe, die Lektüre fasziniert Dich ebenso wie mich.
Herzlich grüsst
Jarg
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Also spätestens dann, wenn der 76-jährige Schwiegervater beim Osteressen die Funktionen und Disfunktionen seines Verdauungsapparates zum Schwerpunktthema macht, verflucht man ein Buch, das man noch gar nicht gelesen hat und ganz sicher auch nicht lesen wird. Jedenfalls so lange nicht, solange wieder einmal auf wundersamem Wege ein Hype rund um ein Thema entsteht, das so alltäglich ist, wie der Stuhlgang.
Da hätte mich noch eher interessiert, ob meine Schwiegereltern mit 76 noch Sex haben und wenn ja, ob mit Freude. Oder anders gesagt: Der Begleiteffekt des Buches, die Fixierung alter Männer auf eine späte anale Phase „stubenrein“ gemacht zu haben, werde ich dem Buch nicht verzeihen.
Mal schaun, vielleicht schenke ich ihm zu Weihnachten eine Eintrittskarte für „Die Vagina-Monologe“ und am Ende kommt es noch zum literarischen Dialog zwischen Enddarm und Vagina. 😀
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Liebe Heike,
Du unterschätzt das Buch, auch wenn ich das Misstrauen gegenüber Bestsellern grundsätzlich teile: hier teilt eine junge Wissenschaftlerin ihre Faszination für ihr Fachgebiet, ohne je geschmacklos oder peinlich zu werden … und lässt einen staunend, verblüfft, bereichert und dazu nicht gut unterhalten zurück. Give it a try 😉
Herzlich gruesst Jarg
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Hallo lieber Jarg, ich sehe meinen ursprünglichen Kommentar gar nicht 🙂
Aber ich hatte ohnehin hinzufügen wollen, dass mir deine Buchbesprechung auch dann gefällt, wenn ich das Buch selbst nicht unbedingt lesen möchte.
Liebe Grüße
Heike
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Hallo liebe Heike,
danke schön! 🙂
Die WordPress-App hat beim Antworten auf Deinen Kommentar gezickt. Jetzt ist er da …
Liebe Grüsse von
Jarg
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