Nach seiner Rezension von „Still Alice“ freue ich mich, dass Simon Kyprianou Jargsblog zum zweiten Mal eine Gastrezension zur Verfügung stellt. Er ist Autor bei „35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin“ und Gastautor im Blog „Die Nacht der lebenden Texte“.
Die Familienidylle trügt
Drama // Ein gut situiertes Pärchen, Tomas (Johannes Kuhnke) und Ebba (Lisa Loven Kongsli), sitzen auf der Terrasse ihres luxuriösen Hotels mit herrlicher Aussicht auf die schneebedeckten Berge. Einige Lawinen werden kontrolliert ausgelöst, zum Schutz der Urlauber. Doch eine davon steuert direkt auf die Terrasse des Hotels zu. Panik und Chaos brechen aus. Tomas rennt davon und lässt Ebba und die zwei Kinder in einem Schockzustand auf der Terrasse zurück. Die Lawine stellt sich als ungefährlich heraus und Tomas kehrt zur Terrasse zurück wo seine Frau und seine Kinder geschockt sitzen. Er tut seine Flucht als Nichtigkeit ab, doch Ebba ist in ihren Grundfesten erschüttert. Die familiären Strukturen brechen auseinander.
Eine Lawine bringt alles ins Wanken
Urlaube sind für Familien Zerreißproben, Drahtseilakte, wahre Druckkammern der Emotionen. Diese artifizielle Urlaubssituation nimmt Ruben Östlund als Ausgangslage für seinen analytischen, beobachtenden Film. Im Zuge eines Besuchs bei der Criterion Collection sagte der Regisseur und Drehbuchautor, er hätte seinen Film ebenso gut „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ nennen können – angelehnt an Luis Buñuels träumerische Fantasie von 1972. Und dieser Titel hätte wesentlich besser gepasst als „Höhere Gewalt“. Denn die Gewalt geht in diesem Film von Menschen aus, von Handlungen, Gesten, Blicken und Worten. Die Lawine als die höhere Gewalt ist nicht die Ursache, sie legt die sowieso existierenden Probleme nur offen. Es ist die alltägliche Gewalt, die wir uns permanent antun, die die Eskalation verursacht.
Ebba konfrontiert Tomas mit ihrem Vorwurf
Östlunds Film ist präzise: klare, schnörkellose Bilder, eine strenge Struktur. Der Film ist wie eine Versuchsanordnung. Mit Distanz und Präzision seziert Östlund diese Familie und denkt dabei über die Schwierigkeit menschlicher Beziehungen und über die klassischen Rollenbilder unserer Gesellschaft nach, kehrt sie um und führt sie ad absurdum. Der österreichische Regisseur Michael Haneke („Das weiße Band – eine deutsche Kindergeschichte“) sagte einmal, dass seine Filme, wenn man sie denn mit einem Wort beschreiben müsste, am besten mit dem Wort „Bürgerkrieg“ beschrieben werden sollten. Das ist es auch, was Östlund hier inszeniert – einen Bürgerkrieg. Schon am Anfang, wenn die Lawine den Berg hinunterkracht, hüllt der Regisseur die Menschen in einen weißen Schleier ein – Symbol für die zwischenmenschliche Kälte, die zwischen uns allen vorherrscht. Andreas Busche von der „Zeit“ hat „Höhere Gewalt“ sogar mit David Finchers Ehekrieg „Gone Girl – Das perfekte Opfer“ verglichen. Zusammen ergeben sie bestimmt ein feines Double Feature.
Veröffentlichung: 24. April 2015 als Blu-ray und DVD
Länge: 118 Min. (Blu-ray), 115 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Schwedisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Turist
Internationaler Titel: Force Majeure
SWE/F/NOR/D 2014
Regie: Ruben Östlund
Drehbuch: Ruben Östlund
Besetzung: Johannes Kuhnke, Lisa Loven Kongsli, Clara Wettergren, Clara Wettergren, Kristofer Hivju
Zusatzmaterial: Making-of, Interview mit dem Regisseur, Trailer, Wendecover
Vertrieb: Al!ve AG / Alamode Film
Copyright 2015 by Simon Kyprianou
Fotos & Packshot: © 2015 Al!ve AG / Alamode Film