Sie sagte nichts. Ich saß einen Moment lang da, schaute sie an, dann zog ich mich aus und stieg hinein, wartete, dass das Wasser sich um mich herum auffüllte. Ich tauchte den Kopf unter und hielt den Atem an, und mein Ring streifte am Porzellan entlang – man hatte mir Gott zum Mann bestimmt. Ich sollte mit Gott verheiratet werden. ich stellte mir vor, wie ich meine Handgelenke aufschlitzte, rot auf weiß. Es wäre so grell, so schön. Ich hörte mein Herz schlagen und erinnerte mich, dass es nur begrenzt schlug. Es schien so grausam, man pflanzte uns eine kleine Bombe ein, und wir mussten immer neue Wege finden, sie zu ignorieren. (S. 147)
Die Vereinigten Staaten sind ein merkwürdiges Land, gespalten zwischen Moderne und religiösem Fundamentalismus, zwischen Aufklärung und Restauration, zwischen Frömmigkeit und Bigotterie. Es ist soweit und der Weltuntergang steht bevor: Die 15jährige Jess und ihre 17jährige Schwester reisen auf dem Rücksitz des Familienautos mit ihren religiös-fundamentalistischen Eltern quer durch die Staaten und am Bible-Belt entlang Richtung Westen, der bevorstehenden, vom Propheten Marshall angekündigten Entrückung entgegen. Vier Tage dauert die Fahrt, in der sie auf Interstate-Highways und Nebenstrecken unterwegs sind, in heruntergekommenen Motels übernachten und schliesslich mit dem letzten Geld und kurz vor dem Ziel in einem noblen Casinohotel landen. Der Vater, sporadisch spielsüchtig und wieder ohne Job, bleibt ganz seinem religiösen Wahn verhaftet, während die Mutter, eine Lehrerin, die Reise seltsam teilnahmslos hinnimt, als füge sie sich resignierend einer höheren Gewalt. Beide versuchen ihre Kinder vor dem Unvermeidlichen zu bewahren und abzuschotten und scheinen doch zu ahnen, dass sie sie längst verloren haben.
Vier Tage, geschildert aus der Sicht von der unattraktiven Jess, die mit ihrer Religion und ihrer Familie hadert und voller Sehnsucht auf erste sexuelle Abenteuer ist, während ihre schöne Schwester ihre Schwangerschaft verheimlicht und keinen Hehl daraus macht, dass sie die Reise für sinnlos hält. Vier Tage, in denen sie zahllosen Menschen begegnen, sich allein die Motelzimmer teilen, einen Unfall mit Todesfolge erleben, mit Jungs anbändeln und zunehmend Anstand zu den Eltern suchen. Vier Tage, in denen sich Jess verändern wird und nach denen nichts mehr so sein wird wie vorher – egal, ob die Reise nach Westen fortgesetzt wird oder es zurückgeht nach Alabama. Die Reise einer in sich gespaltenen Familie aus dem American White Trash, geprägt von blinder Gläubigkeit, Lüge, Resignation und Hoffnung.
In Jess Erzählung wird das ganze Panorama der Reise gespiegelt und verschmilzt mit ihrer eigenen Wahrnehmung, ihren Zweifeln, Ängsten, Sehnsüchten und Hoffnungen zu einem Zerrbild der amerikanischen Gesellschaft und eigener Widersprüche, in dem sie mit ihrer gesteigerten Wahrnehmung und ihrer Erfahrungsneugier immer wieder sich selbst aufschimmern sieht. So wird „Süßer König Jesus“ zu einem literarischen Roadmovie der besonderen Art, eine Coming-of-age-Geschichte, die sich mit Klassikern des Genres wie Salingers „Fänger im Roggen“ und anderen durchaus messen kann und weit über Eugenides „Die Selbstmordschwestern“ hinausreicht und von der man sich nach der Lektüre sehnsüchtig eine Verfilmung durch die Coenbrüder wünscht. Unwillkürlich identifiziert sich der Leser mit Jess – und obschon sich alles in uns sträubt, an dieser Reise teilzunehmen mit dieser disparaten, in sich gespalteten Familie, zieht uns Jess Erzählfluss, ihr Mäandern zwischen Weltsicht, Reisebericht und Innenschau immer stärker in den Bann und wir beginnen, uns unwillkürlich mit ihr zu identifizieren.
Dabei beweist Miller einen ausgesprochen genauen Blick und starke Empathie für das Innenleben von Teenagern auf der Schwelle zum Erwachsensein, in diesem Fall für eine 15jährige, die es fasst zerreibt zwischen ihrem naiven, der Wirklichkeit nicht standhaltenden Kinderglauben und ihrer zynisch-abgeklärten Schwester, zwischen der Liebe zu den Eltern und der sich bahn brechenden, nach Freiheit schreienden jungen Lebenswut, erschwert durch ein im Vergleich mit der heimlich lebenslustigen Schwester als unzureichend empfundenes Aussehen. Es gelingen ihr ebenso poetische wie komische und traurige Passagen, die sich im Gesamtbild zu einem überaus gelungenen Roman zusammenfügen, der lange nachklingt.
Ein beeindruckendes, durchaus nicht nur als Jugendroman zu verstehendes Debüt der amerikanischen, bisher nur für Kurzgeschichten bekannten Autorin, die in Texas lebt.
Bin gerade mitten drin in dieser Reise, durch USA und Buch und kann es nur wärmstens weiterempfehlen.
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Schön besprechungen zu Büchern zu lesen, die zum Spontankauf locken. Titel und Cover hätten mich sonst nie erreicht. Merci!
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Gern geschehen und vielen Dank für die freundlichen Worte! 🙂
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