So war es mit unserer Geschichte, immer wieder und wieder. Ich erhoffte mir die Wahrheit, fand aber nur Asche. Stand alleine da und musste mir meinen Reim auf schwer zu deutende Zeichen machen.
Der Wald maß nicht mehr als 30 Hektar, war aber dichter bombardiert worden als jedes andere Gebiet an der Somme. In den hektischen Momenten wurde er von sieben Artilleriegranaten pro Sekunde beschossen. In den wenigen Pausen des Bombardements hörte man die Schreie von Hunderten Sterbenden.
Norwegen. Der 24jährige Edvard Hirifjell ist bei seinem Großvater Sverre auf einem einsamen Bauernhof im abgelegenen Gudbrandstal aufgewachsen. Gemeinsam pflanzen sie Kartoffeln und treiben im Frühjahr die Schafe auf höhergelegenen Weiden. Verwandte gibt es nicht mehr: Einar, ein höchst begabter Tischler und der ungeliebte Bruder von Sverre, fiel im Krieg auf der Seite der Alliierten, Sverre, der für dieFeutschen kämpfte und seither als Nazi verschrien ist, überlebte und übernahm den Hof.
An seine 1971 bei einem Unfall in Frankreich ums Leben gekommenen Eltern hat Edvard kaum Erinnerungen: nur der Duft der Mutter und ihre Wärme haben sich tief in sein Gedächtnis gegraben. Das wenige, was er von dem Unfall weiß, hat ihm sein Großvater erzählt: Walter, Nicole und der dreijährige Edvard reisten 1971 ins französische Authuille, die Heimatstadt von Nicole. Dort fand man ihre Leichen in einem Wald: sie hatten aus einer alten Granate ausgetretenes Kampfgas aus dem ersten Weltkrieg eingeatmet und waren danach bewusstlos im Fluss ertrunken.
Erst als 9jähriger erfährt Edvard durch Zufall, dass er damals vier Tage lang verschwunden war und dann in einer 100 Kilometer entfernten Arztpraxis auftauchte. Seine drängenden Fragen nach seiner Herkunft und dem, was wirklich geschah, bleiben seitens des Grossvaters unbeantwortet und lassen Edvard zu einem eigenbrötlerischen, zu aggressiven Ausbrüchen neigenden jungen Mannn heranwachsen.
Mit dem plötzlichen Tod des Großvaters steht Edvard allein da mit seinen quälenden Fragen. Nur der steinalte Pfarrer Thalaug scheint etwas zu wissen. Als sich dann noch herausstellt, dass beim Bestattungsunternehmen für Sverre ein aufwändig gefertigter Sarg aus Flammbirke eingelagert ist, der zwanzig Jahre nach dem Krieg vom tot geglaubten Einar für seinen Bruder gefertigt wurde, beginnt Edvard mit seinen Nachforschungen, konsultiert Archive, Ämter und Zeitzeugen, studiert alte Fotos, Briefe, Dokumente und Artefakte, besucht Schlachtfelder, eine abgelegene Insel und fremde Menschen, ein Puzzlestück nach dem anderen einsammelnd zu einem immer wieder neu verwirrenden, sich erst am Ende klärenden Bild.
Was er unter großen Schwierigkeiten in Norwegen, Frankreich und England mit hartnäckigem Fragen nur nach und nach herausfindet, erschüttert nicht nur sein sowieso vages Verständnis der eigenen Geschichte, sondern führt ihn weiter zurück in die Vergangenheit, als er es für möglich hielt. Ihm enthüllt sich ein Familiendrama, das eingebettet ist in die gewalttätige Geschichte zweier Weltkriege, verbunden mit einer großen Leidenschaft für wertvolles, erst durch Kriegseinwirkung entstandenes Nussbaumholz. Während Edvard versucht, die Fäden seiner Lebens- und Familiengeschichte zu entwirren, verstrickt er sich gleichzeitig in seinen Gefühlen zwischen der freiheitsliebenden, undurchsichtigen Gwen und Hannah, die in seiner Abwesenheit den Hof in Schuss hält.
Lars Mytting, der mich mit seinem Bestseller, dem Sachbuch „Der Mann und das Holz“ so begeisterte, dass ich mir am liebsten einen Stapel Holzscheite auf dem Balkon zugelegt hätte, legt mit „Die Birken wissen’s noch“ eine Familiengeschichte vor, die weit über ihr Genre hinausreicht. Der komplexe Plot reicht weit zurück ins 20. Jahrhundert und seine zwei grausamen Weltkriege, umfasst etliche Schauplätze und Generationen. Mytting hält dabei bis zum Schluss die Spannung und lässt den Leser, der eng an der Seite der Hauptfigur Edvard steht, wie diesen bis nahezu zum Schluss im Ungewissen. Verbunden mit dem nach seinen verschütteten Wurzeln suchenden Protagonisten sind dabei ndie familiären Verstrickungen in die Zeitläufte zweier Weltkriege – und die Leidenschaft für Holz als Werkstoff, die nicht nur in der Figur von Einar sicht- und spürbar wird.
Dabei weiß Mytting starke Bilder und Stimmungen zu erzeugen und überzeugt überdies mit einer zuweilen überaus sinnlichen Sprache. Als Leser meint man das Holz zu riechen, um das es immer wieder geht, spürt das Meer, den Wind und die Erde an den Kartoffeln, die Edvard erntet.
Für mich eines der schönsten Bücher dieses Jahres, das überdies auch in gestalterischer Hinsicht aus der Masse der Bücher herausragt. Ein tief berührender und sprachlich herausragender Roman mit melancholischem Grundton, der überzeugt und von der ersten Seite an fesselt.
Scheint ein echtes Kriegsenkelbuch zu sein, und das Motiv mit Brüdern und Hof scheint diese Saison irgendwie in der Luft zu liegen,.. sehr interessant, Danke für den Tip
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Gern geschehen. Ein wirklich berührendes Buch, sprachlich in der deutschen Übersetzung herausragend. Und ja, es passt zu dem Kriegsenkelthema und bewegt mich, der ich Sohn eines Kriegsteilnehmers bin, vielleicht auch deshalb sehr.
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Du hast mich aufjedenfall überzeugt und den Wunsch geweckt es auch zu lesen 😀
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Bin gespannt auf dein Urteil! 😉
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Oh Danke, das nehm ich als Kompliment
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Unbedingt! 😊
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Lieber Jarg,
das ist wirklich eine mitreißende Buchbesprechung, die ich mit atemloser Spannung durchgelesen habe.
Diesen Roman werde ich mir vormerken. Danke fürs „Vorlesen“ … 🙂
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Gerne, liebe Ulrike. ich hoffe, deine Erwartungen werden nicht enttäuscht und du hast eine ebenso bewegende Lektüre wie ich.
Liebe Grüße von Jarg
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