Wer wie ich in den 1970er Jahren mit einem Klapprad zur Schule gefahren ist, weiss, dass die zeitgenössischen Konstruktionen nicht unbedingt der Gipfel an Ergonomie und technischer Ausgereiftheit waren. Auch wenn mein blaues Klapprad sich durchaus in der Fantasie in eine Rakete, ein Schnellboot oder eine 747 im Landeanflug verwandelte – schnell war es nicht und die coolen Bikes in Form von Peugeot- oder Bianchirennrädern hatten die anderen Jungs. Mit 13 Jahren war ich dann froh, mein erstes 28-Herrenrad zu bekommen – ein stahlblaues Patria, mit dem ich über 40.000 km fuhr, bis ich es aus heute unerfondlichen Gründes in den Wertstoffkreislaif zurückführte.
Kein Gedanke also, mit dem Klspprad eine Reise zu machen. Schon gar nicht über 10.000 km. Kein Gedanke? Der 1964 geborene Tim Moore kommt aus einer Laune heraus genau auf diesen Gedanken, ersteht ein altes Mifa-Klapprad vom Typ 904 aus späten DDR-Zeiten, stattet es mit einem Hinterrad aus westdeutscher Produktion samt Duomatic-Schaltung aus, lässt den wackeligen Rahmen verstärken und startet nach Finnland im festen Vorsatz, den gesamten ehemaligen eisernen Vorhang entlangzuradeln. Als Startzeitpunkt für diese ungewöhnliche Reise wählt er einen nicht unbedingt für das Gelingen ser Fahrt, wohl aber extreme Erfahrungen äusserst passenden Zeitpunkt: den Höhepunkt des arktischen Winters.
So kämpft sich Moore zunächst hunderte von Kilometern durch schneebedeckte, vereiste finnische Landschaften, unterstützt von schweigenden, aber hilfsbereiten Finnen, um danach in Russland den real existierenden Postsozialismus am eigenen Leibe zu erfahren. Moore schläft in abgeranzten altsowjetischen Hostels, abgelegen Hütten, einem Banktresor, wird mal von der brutal heissen finnischen Sauna, mal von Wodka oder Knödeldiät am Leben gehalten. Er radelt bis an die Grenze der Erschöpfung, oft nur noch von Energydrinks frageürdiger Zusammensetzung am Leben gehalten, und lernt, sich mit den jeweils landestypischen Eigenheiten zu arrangieren.
Nach zwanzig Ländern, einer Temperaturbreite von fast 60 Grad, vielen Höhenmetern, unzähligen Abenteuern, mancher Panne und zahllosen Begegnungen erreicht er die Schwarzmeerküste – etliche Kilo leichter, um viele Erfahrungen reicher. Moore erzählt von seiner Reise in einer wunderbaren Mischung aus Selbstironie und britischem Humor und zeigt Gespür für die Wahrheit im Absurden. Sein Buch wird so zu einer Reise durch das Europa der 2010er Jahre, in dem Veränderung, aber auch Stagnation und Rückschritt, ebenso spürbar ist wie die zum Teil düstete Verhangenheit, die bis in die Gegenwart fortwirkt. Dabei schreibt er so humorvoll, dass man nicht selten auflacht bei der Lektüre und manchen Abschnitt gerne zweimal liest.
Ein wunderbares Buch, das nicht nur Radfahrer und Klappradliebhaber begeistern dürfte, sondern auch jene, die sich an Reiseberichten der etwas ungewöhnlicheren Art erfreuen können.