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Das Café der Existenzialisten: Freiheit, Sein und Aprikosencocktails / Sarah Bakewell

Paris im Jahr 1932. Ein Café wird zum Ausgangspunkt einer neuen Philosophie. Aufbauen auf der Phänomenologie Husserls, aber auch auf Kierkegaard und Nietzsche wird dieser Moment die Philosophie revolutionieren und mit dem Existentialismus eine Denkrichtung hervorbringen, die ganze Generationen von Studenten beeinflussen und auf Musik, Kunst und Literatur ebenso anregend wirken wird wie auf politische Bewegungen vom Feminismus über den Antiimperialismus bis hin zur studentischen Revolte der späten 1960er Jahre.

Sarah Bakewell, die zuletzt mit einem Buch über Montaigne begeisterte (Wie soll ich leben? oder Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten / Sarah Bakewell) zeichnet in ihrem Buch die Entwicklung und Ströme dieser aufregenden neuen Denkrichtung ebenso akribisch und spannend nach wie die Lebenslinien ihrer Protagonistinnen und Protagonisten, die sich kreuzen, miteinander verflechten und manchmal auch endgültig trennen, bis nach und nach alle mit ihrem Tod „das Café“, Symbol der angeregten Kommunikation, mit ihrem Tod verlassen haben.

Bakewell kommt dabei das Verdienst zu, der Philosophie des Existenzialismus und seiner verschiedenen Denkschulen auf eine gut nachvollziehbare Art in feinste Verästelungen zu folgen, seine Wurzeln offenzulegen, aber auch seine Schwächen deutlich zu machen, die nicht selten auch seine Stärken sind. Neben dem Phänomenologen Edmund Husserl setzt sie den Fokus dabei auf die beiden Antipoden, den nicht selten weltfremd erscheinenden, im Bergwerk des Seins gründelnden und sich nie wirklich vom Nationalsozialimus distanzierenden Martin Heidegger und den manischen Schreiber Sartre, der immer ein Herz für die Schwachen besass, mit seiner Offenheit einiges riskierte und zuweilen ein problematischen Verhältnis zur Gewalt offenbarte.

Um sie gruppieren sich starke Persönlichkeiten wie Simone de Beauvoir, die in einigem weiterging als Sartre, Albert Camus, mit der sich Sartre nach dem Krieg über der Frage der Gewalt zerstritt, den tanzenden Philosophen Merleau-Ponty, der mehr zur Phänomenologie tendierte und dessen Arbeit zwischen Psychologie und Philosophie auf unerhört moderne Weise Verbindungen fand, und andere, von denen hier vor allem Karl Japsers, Jean Genet, Boris Vian und Hannah Arendt Erwähnung finden sollten. Über vierzig Jahre prägt der Existentialismus die Welt bis hin zum Klischee des Kaffee trinkenden, schwarze Rollkragenpullover tragenden Rauchers.

Paris wird dabei zum Epizentrum des Buches, das auch gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen zwischen 1925 und 1980 nachzeichnet bis hin zu den Gräueln des Weltkrieges, dem Abgleiten der Welt in den Kalten Krieg und den Aufbruch in die in vielerlei Hinsicht revolutionären, befreienden 1960er Jahre. Doch Bakewells Buch reicht weit über eine historische Darstellung, eine mit lebendig geschilderten philosophischen Diskursen und Erwägungen und biographischen Exkursionen gespickte Geschichte des Existentialismus und der Epoche, in der er seine Blütezeit hatte, weit hinaus: ihr ausgesprochen lebendig geschriebenes, anregendes Buch ist zugleich eine Einladung, den Existenzialismus als ausgesprochen konkrete, auch sinnlich ansprechende und intellektuell herausfordernde Lebensart in seiner Bedeutung für heute neu zu entdecken. Die fundamentalistischen Strömungen unserer Zeit vom religiösen Fundamentalismus bis zum politischen, unsere Freiheit und die demokratischen Errungenschaften bedrohenden Populismus rechter wie linker Coleur verdienen eine ebenso stringente wie Hoffnung machende Antwort: der Existentialismus zeigt sich hier auf der Höhe der Zeit.

Bakewell lässt uns tief in ihr Thema eintauchen und am Ende erfrischt, doch mit leisem Bedauern wie nach einem Ausflug zu unbekannten Meerestiefen, aus einem bunten Meer des Denkens auftauchen. Ein wunderbares, faszinierendes Buch, dass mir die Entdeckung eines mir bisher nahezu unbekannten Philosophen (Merlau-Ponty) und viele ebenso anregende wie vergnügliche Lesestunden brachte.

4 Kommentare zu “Das Café der Existenzialisten: Freiheit, Sein und Aprikosencocktails / Sarah Bakewell

    • Ah verflixt, und gleich in deinem verlinkten Beitrag wieder auf ein interessantes Buch gestoßen (E. M. Forster). Viel Spass mit Bakewells Montaigne-Buch: die Frau weiß einfach, wie man schreibt!

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