Florian Illies, der mit „1913“ ein beeindruckendes Buch vorgelegt hat, das weniger ein Geschichtsbuch als vielmehr ein vielschichtiges Porträt eines Jahres war, das durch Aufbruch, Untergang, Erwartung und Überdruss geprägt war und letztlich in die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts führte. Mit „Liebe in den Zeiten des Hasses“ führt er uns in eine Zeit des Übergangs von den 1920er Jahren – geprägt von wirtschaftlichen und politischen Krisen, aber auch von gesellschaftlichem, kulturellem und wissenschaftlichem Fortschritt – hin zur Zäsur der Nazibarbarei, des zweiten Weltkrieges und all seinen Folgen in Europa und der Welt. Wir begegnen Henry Miller und Anaïs Nin, Thomas Mann und Hannah Arendt, Kurt Weill, Walter Benjamin, Marlene Dietrich, Kurt Tucholsky, Sartre, DeBeauvoir, Benn, Riefenstahl, Kästner und vielen, vielen anderen mal bekannten, mal weithin vergessenen Persönlichkeiten, Stars und Sternchen jener Zeit.
Sie alle begleiten wir nach einem Jahrzehnt des künstlerischen, kulturellen, politischen und sozialen Aufbruchs in eine Zeit der Unsicherheit und des Umbruchs: während der Hass der Nationalsozialisten die Gesellschaft zunehmend vergiftet und die mühsam erkämpfte Freiheit bedroht wird, verlieben sich die einen, während andere fliehen, sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen oder gar mit den sich rasch und brutal etablierenden Machthabern arrangieren. Es wechseln die Lebenspartner*innen und Affären, die Orte des Exils und der Flucht von Sanary-Sur-Mer bis Paris, während Berlin als wesentlicher Kristallisationspunkt europäischer Avantgarde binnen weniger Monate all seine Magie verliert und zu einem gefährlichen, grauen Ort wird. Wittgenstein fürchtet Sexualität, Miller sucht sie, Brecht und Tucholsky zelebrieren die Untreue, Dali malt Erotische, aber flieht vor der eigenen Sexualität. Lotte Lenya bringt mit ihrem Liebhaber das Geld ihres Mannes Kurt Weill in Casinos durch und Tennisspieler Georg von Cramm sucht seine Homosexualität vergeblich vor den dunklen Mächten zu verbergen, während andere sie ausserhalb des Dritten Reiches ausleben. Wir sehen, wie sich Marlene Dietrich, der eiskalte blaue Engel, neu erfindet, während Walter Benjamin sich verliert und an den Zeitläuften zerbricht.
Manches, was Illies aus Biografien, Briefen und anderen Zeugnissen zusammengetragen hat, kennt man schon. Neu ist, dass er dieses ins Grauen steuernde Jahrzehnt im Spiegel von Liebe und Leidenschaft, Begehren und Lust, Verrat und Versöhnung porträtiert und dabei auch die Untiefen seiner Held*innen nicht ausspart. Er folgt diesem vielfach verwobenen Netzwerk der europäischen Avantgarde und seinen amourösen Verwirrungen und Verbindungen, von denen manche sich lösen, manche fester werden, andere wiederum sich unheilvoll gegenseitig bedingen. So kontrastiert das wachsende Grauen, die beginnende Judenverfolgung und die baldige Gewissheit eines Krieges vor dem schillernden Ausklang einer Epoche des Experiments und der Freizügigkeit, der freien Liebe und der Flucht aus gesellschaftlichen Normen.
Illies ist ein wunderbares, pointiertes Buch gelungen, das man mit einem melancholischen Gefühl verlässt: zum einen berührt vom Ausmass an Liebe, Umtreue, Verirrung und Verzweiflung in diesem weit verwobenen Netz an Künstler*innen, Schauspieler*innen, Literat*innen, zum anderen traurig im Bewusstsein dessen, dass wir bis heute nicht dort angekommen sind, wohin die 1920er Jahre einst aufgebrochen sind.
Mein liebstes Buch des Jahres 2021. „1913“ war beeindruckend, „Liebe in Zeiten des Hasses“ finde ich noch beeindruckender…
Danke für die Rezension. (Warum nicht mal die Suppe nach dem Hauptgericht kosten?) 🙂
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Cool, das klingt gut. Ich habe es samt 1913 bestellt.
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Danke für deinen Kommentar und eine anregende Lektüre beider Bücher
wünscht
Jarg
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Sehen werden wir! Frohe Weihnachten und viel Gesundheit!
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Danke gleichfalls. Morgen kommt übrigens ein passender Buchtipp, der sich ebenfalls mit dem gleichen Thema auseinandersetzt 😉
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Da bin ich mal gespannt, ob ich neugierig bin.
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Darauf Jargsblog in maßloser Selbstüberschätzung: „Aber gewiss doch!“ 🙂
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Guten Morgen, lieber Jarg,
vielen Dank für deine kurze Rezension. Das hört sich ja äußerst spannend an. Nun weiß ich, was auf die Weihnachtswunschliste kommt.
Alles Gute. Bleibe gesund und munter
Klausbernd 🙂
und der Rest der Viererbande
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Moin, lieber Klausbernd,
danke für den Kommentar und die guten Wünsche! Eine anregende Lektüre, schöne feiertage und vor allem Gesundheit wünscht
Jarg
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