Großer Sklavensee, Nordkanada. Yellowknife ist eine kleine Stadt und doch der der Dreh- und Angelpunkt der kanadischen Northwest-Territories. In der Radiostation der Stadt finden Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts unterschiedliche Menschen zusammen: Harry, Anfang 40, ein dem Alkohol zugeneigter früherer Radiostar, der beim Fernsehen gescheitert ist; die rätselhafte, große und schöne Dido, Ende 20, aus den Niederlanden, die Männer verzaubert und Radiohörer mit ihrer Stimme bannt; die zurückhaltende, introvertierte Gwen, angereist über 5000 km Strasse mit Auto und Wohnanhänger, 24, die ihr Sprechertalent und ihre Qualitäten als Radiojournalistin langsam entfaltet; Eleanor, 36, die mit beiden Beinen fest im Leben steht; Ralph, Anfang 60, der charmante Literaturkenner und begabte Fotograf. Aus den unterschiedlichsten Gründen hat es sie nach Yellowknife verschlagen: Scheitern, Liebeskummer, Versagensangst und Flucht vor der eigenen traurigen Vergangenheit. Sie alle arbeiten zusammen mit anderen in dem kleinen Radiosender, dessen Übergangschef der Rundfunkveteran Harry vorübergehend wird. Freundschaft, Liebe, Vertrauen entwickeln sich unter den Mitarbeitern des Senders ebenso wie Abneigung, Verrat, Rivalität und Mißgunst. Doch dann verschwindet Dido plötzlich, ohne dass man weiss wohin. Und ein Hörspiel über den in der Wildnis der Arktis gescheiterten Forscher John Hornby bringt Gwen, Eleanor, Ralph und Harry dazu, auf dessen Spuren im Sommer 1976 eine sechswöchige Kanutour zu unternehmen. Zu viert brechen sie auf und entdecken den Zauber der Akrtis. Doch nur drei kehren zurück und alles ist anders als zuvor …
Elizabeth Hay ist erstaunlicherweise im deutschen Sprachraum bisher kaum bekannt, während die ehemalige Radiomoderatorin in Kanada zu den bekanntesten Autorinnen zählt. „Nachtradio“ („Late night on air“) ist das zweite Buch von ihr, dass ins Deutsche übersetzt wird. Vor dem Hintergrund der kanadischen Arktis und der Radiostation des beschaulichen Provinzstädtchens Yellowknife entfaltet sie das Beziehungsgeflecht von Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen hier gestrandet sind. Sie lässt ihrer Geschichte und ihren Protagonisten wohltuend viel Zeit sich zu entwickeln, schwenkt den Focus mal auf die eine, mal auf die andere der Hauptfiguren und lässt so einen intensiven Blick auf die Charaktere zu, auf ihre Motivationen und die Dinge, die sie verbinden oder trennen. Als Kulisse dient dabei nicht nur Arktis mit ihrem Zauber, sondern auch die historisch belegte Untersuchung über den damals geplanten Pipelinebau im Mackenzie Valley durch Thomas Berger, der auch die Ureinwohner in die öffentlichen Anhörungen einbezog und durch seinen Abschlussbericht den Pipelinebau verhinderte.
Was macht den großen Zauber dieses Buches aus? Zum einen die Zeit, die es sich für seine Geschichte nimmt, die Sensibilität für die Protagonisten und ihre Schicksale, ihre Entwicklungen, zum anderen realistische Schilderung der arktischen Wildnis, des Klimas und der Natur. Ein melancholisches Buch über die kleinen und großen Dramen der menschlichen Existenz, über die Wildnis und – nicht zuletzt – den Zauber des Radios und die Leidenschaft der Menschen, die für das Radio arbeiten.
Startseite » Bücher » Nachtradio / Elizabeth Hay