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Manifest für einen evolutionären Humanismus : Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur / Michael Schmidt-Salomon

„Während wir technologisch im 21. Jahrhundert stehen, sind unsere Weltbilder noch von Jahrtausende alten Legeneden geprägt. Diese Kombination von höchstem technischem Know-how und naivstem Kinderglauben könnte auf Dauer fatale Konsequenzen haben. Wir verhalten uns wie Fünfjährige, denen die Verantwortung für einen Jumbojet übertragen wurde.“ (Michael Schidt-Salomon)

Wir leben in einer erstaunlichen Zeit: einerseits leben wir (zumindest in den westlichen Ländern) hochtechnisiert in vorwiegend säkularen, aufgeklärten Gesellschaften, die über ausdifferenzierte Strukturen, ausgleichende, sich fortwährend entwickelnde Rechtssysteme, Meinungsfreiheit und freie Wissenschaft verfügen. Andererseits erleben wir einen Rückfall in religiös-fundamentalistische Denkweisen, die darüber hinaus eine gefährliche Verbindung mit der hochtechnisierten Gesellschaft und sich ihrer Mittel bedienen, um ihren rückwärtsgewandten Vorstellungen zu mehr Macht und Einfluß zu verhelfen.
In abgemilderter Form erleben wir in unserem Land diesen Rückfall in den immer wieder aufflammenden Wertediskussionen, bei denen stets von interessierter Seite der Rückgriff auf abendländisch-christliche Traditionen und die „Moral“ der biblischen zehn Gebote gefordert wird, während alle problematischen, anders- oder nichtgläubige Menschen mit Strafe und Tod bedrohenden Stellen aus religiösen Texten gerne unterschlagen, relativiert oder ausgeblendet werden. Gleichzeitig wird rational denkenden und damit stets auch Zweifel und Fragen zulassenden Menschen gerne unterstellt, sie unterlägen einer quasireligiösen Wissenschaftsgläubigkeit. Und natürlich müssen in Ethikkommissionen immer Vertreter der großen religiösen Gemeinschaften sitzen, auch wenn niemand so genau begründen kann, warum das unbedingt so sein muss.
Michael Schmidt-Salomon zeigt im „Manifest für einen evolutionären Humanismus“ den Weg zu einer aufgeklärten Gesellschaft, die sich im fortwährenden Diskurs befindet, ihr erworbenes Wissen permanent hinterfragt, sich der Unzulänglichkeiten ebenso bewusst ist wie der natürlichen Bedürfnisse des Menschen und verantwortlich mit den natürlichen Ressourcen umgeht. Religion und religiös basierte oralvorstellungen als Richtschnur für menschliches Handeln hinterfragt er dabei äußerst kritisch:

„Erstens: Religiöses Denken beruht notwendigerweise auf Etikettenschwindel, da es menschliche Wirklichkeitskonstruktionen mit anderen als menschlichen Gütekriterien („Gebot Gottes“ […]) versieht, was zu einem unlauteren Wettbewerb der Gedanken führt. […] Der religiöse Mensch […] verwendet Argumente, die ihrem Anspurch nach einer „höreren Ebene“ angehören (und deshlab durch menschliche Argumente nicht aufgehoben werden können). Durch diese pseudotranszendentale Verstärkung seiner Argumente wird der religiöse Mensch argumentativ unangreifbar. […] Er überhöht sich selbst, übervorteilt und erniedrigt seine nichtreligiösen Kommunikationspartner, die in der Kommunikation nicht mit gezinkten Karten spielen.
Zweitens: Religiöses Denken kann durch seine jenseitige und nicht diesseitige Begründungsform jede rationale, menschliche Argumentation ausser Kraft setzen und damit eine nicht mehr hinterfragbare Beliebigkeit der Argumentation nach sich ziehen […].
Drittens: Der religiöse Zugang zur Welt ist gekoppelt an eine zutiefst autoritäre Denkstruktur […]. Hier zeigt sich vielleicht am deutlichsten der Unterschied zum wissenschaftlichen Denken, das gerade darauf angelegt ist, über Kritik, d. h. über stete Versuche der Falsifikation (Widerlegung) bisheriger Überzeugungen vormalige irrtümer zu überwinden […]“ (a.a.O, S. 54-55).

Ausgehend vom Julian Huxley, der als erster Generalsekretär der UNESCO vorschlug, unter de Begriff „Evolutionärer Humanismus“ ein neues Ideensystem zu entwickeln, das den Humanismus mit der Wissenschaft versöhnen soll, schlägt Schmidt-Salomon einen weiten Bogen: er reicht von der Unvereinbarkeit religiöser Moralvorstellungen mit den legitimen, natürlichen Bedürfnissen der Menschen, vom Kampf um die Menschenrechte gegen den harten Widerstand der Religionen, den religiös begründeten Speziezismus des Menschen, der Tieren kaum Rechte einräumt und sich die Erde „untertan macht“. Schlüssig weist er nach, dass die großen Probleme, vor denen die Menschheit steht, eben nicht mit Hilfe religiöser Weltanschauung gelöst werden können:

„Gefordert ist heute nichts Geringeres als eine globale Konversion von der religiösen Überheblichkeit („Gott will es!“) zum schlichten Mensch-Sein. Erst wenn wir uns nicht ehr als Christen, Juden, Muslime, Buddhisten, Hindus oder Atheisten gegenübertreten, sondern als freie, gleichberechtigte Mitglieder einer mitunter zur Selbstüberschätzung neigenden affenartigen Spezies, wird sozialer Frieden überhaupt möglich sein“.

So räumt er den Religionen zwar durchaus ein, „Sachwalter eines impliziten Wissens“ zu sein, dass die Menschheit im Laufe der Evolution erworben habe, weist aber gleichzeitig nach, dass sie keineswegs die besten Sachwalter eines solchen impliziten Wissens sind, da sie sich immer auf höhere, nicht rational-kritisch hinterfragbare Quellen berufen. Dabei greift Schmidt-Salomon auch die angebliche Unverletzbarkeit religiöser Gefühle an (die wir gerade wieder in der breit publizierten Forderung Martin Mosebachs nach einem Blasphemiegesetz oder der in der Beschneidungsdebatte fast komplett ausgeblendeten Kritik aufgeklärter Juden an der Beschneidung erleben durften), die nicht anderes beabsichtigt, als dass „die kritische Vernunft zu schweigen habe“.

„Im Gegenteil! Wer auf „verletzbare religiöse Gefühle“ Rücksicht nimmt, zementiert damit nur die weltanschauliche Borniertheit, die sich hinter der Rede von den angeblich so schützenswerten „religiösen Gefühlen“ verbirgt“ (a.a.O., S. 151)

Schmidt-Salomon macht dabei im „Manifest“ nicht Halt bei der Spezies Mensch, sondern plädiert auch für eine Zuwendung zur Natur, zu Tieren und ihren Rechten, die spätestens da beginnen, wo ihre natürlichen Bedürfnisse (wie etwa bei der Massentierhaltung) massiv ignoriert und damit viel Leid erzeugt wird. Dabei mag er mit seinen Forderungen manchen Tierrrechtlern nicht weit genug geheh:

„[Wir werden] wohl nur dann zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit der nichtmenschlichen Natur finden, wenn wir bereit sind, die bestehenden Tier- und Menschenbilder grundlegend zu revidieren. Evolutionäre Humanisten lassen in diesem Zusammenhang keine Zweifel daran aufkommen, dass sie den althergebrachten „heiligen Mythos“ von der gottgewollten Sonderstellung unserer Spezies zu Fall bringen möchten. Sie halten eine solch tiefgreifende „Entzauberung“ des Menschen nicht nur für ethisch geboten, sondern auch für wissenschaftlich zwingend. Denn alle Hypothesen, auf die sich die Hybris von Homo sapiens früher stützen konnte (insbesondere der Körper-Geist-Dualismus, mit dessen Hilfe wir dachten, uns über die Natur erheben zu können), gelten mittlerweile als hinreichend widerlegt. Es ist überfällig, dass diese gut gesicherte Erkenntnis (wie so viele andere) aus den Elfenbeintürmen der Wissenschaft in die Gesellschaft hinein getragen wird“ (a.a.O., S. 129-130)

Der Erfolg des Buches, dass sich auch sechs Jahre nach Erscheinen immer noch ausgesprochen hoher Beliebtheit erfreut und auch bei gemäßigten, diskursfähigen Kritikern hohen Respekt genießt, liegt sicher in der ausdifferenzierten und ausgewogenen Argumentaion Schmidt-Salomons, die fundiert und mit zahllosen einschlägigen Quellen belegt, warum es für die Menschheit und ihre Zukunft unabdingbar ist, aus der religiösen Entmündigung der Vernunft herauszuwachsen und die Religion aus dem Handeln von Gesellschaften und Staaten herauszuhalten.
Die aus der Argumentation des Buches heraus entwickelten „Zehn Angbeote des evolutionären Humanismus“ sind es dabei wert, besondere Beachtung zu finden. Spätestens bei der Lektüre der „Zehn Angebote“ zeigt sich, das der häufige Vorwurf, eine im evolutionären Humanismus begründete Weltanschauung sei kalt und rational, jeglicher Grundlage entbehrt:

Die Zehn Angebote des evolutionären Humanismus (Kurzfassung)

1. Diene weder fremden noch heimischen „Göttern“, sondern dem großen Ideal der Ethik, das Leid in der Welt zu mindern!
2. Verhalte dich fair gegenüber deinem Nächsten und deinem Fernsten!
3. Habe keine Angst vor Autoritäten, sondern den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!
4. Du sollst nicht lügen, betrügen, stehlen, töten – es sei denn, es gibt im Notfall keine anderen Möglichkeiten, die Ideale der Humanität durchzusetzen!
5. Befreie dich von der Unart des Moralisierens! Trage dazu bei, dass die katastrophalen Bedingungen aufgehoben werden, unter denen Menschen heute verkümmern, und du wirst erstaunt sein, von welch freundlicher, kreativer und liebenswerter Seite sich die vermeintliche „Bestie“ Homo sapiens zeigen kann.
6. Immunisiere dich nicht gegen Kritik! Ehrliche Kritik ist ein Geschenk, das du nicht abweisen solltest.
7. Sei dir deiner Sache nicht allzu sicher! Zweifle aber auch am Zweifel! Selbst wenn unser Wissen stets begrenzt und vorläufig ist, solltest du entschieden für das eintreten, von dem du überzeugt bist. Sei dabei aber jederzeit offen für bessere Argumente, denn nur so wird es dir gelingen, den schmalen Grat jenseits von Dogmatismus und Beliebigkeit zu meistern.
8. Überwinde die Neigung zur Traditionsblindheit, indem du dich gründlich nach allen Seiten hin informierst, bevor du eine Entscheidung triffst!
9. Genieße dein Leben, denn dir ist höchstwahrscheinlich nur dieses eine gegeben!
10. Stelle dein Leben in den Dienst einer „größeren Sache“, werde Teil der Tradition derer, die die Welt zu einem besseren, lebenswerteren Ort machen woll(t)en! Eine solche Haltung ist nicht nur ethisch vernünftig, sondern auch das beste Rezept für eine sinnerfüllte Existenz.
(Zitiert nach: http://www.leitkultur-humanismus.de/manangebote.htm )

In diesem Sinne sei das Buch allen kritischen Menschen sehr empfohlen.

Ein Kommentar zu “Manifest für einen evolutionären Humanismus : Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur / Michael Schmidt-Salomon

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