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Doktor Oldales geographisches Lexikon / John Oldale

„Wie bitte? Einzelnen Kugeln ausweichen? Die könnten nicht mal einen Elefanten aus solcher Entfernung treffen“

(Letzte Worte von Generalmajor John Sedgwick, dem ranghöchsten Todesopfer der Union im amerikanischen Bürgerkrieg)

Geografische Lexika zeichnet meistens aus, hochverdichtet Informationen, Datenund Fakten zu Ländern und Regionen zu liefern, dabei je Land ein vorgebenes Raster abzuarbeiten von möglichen geschichtlichen Aspekten bis hin zu Geologie, Wirtschaft, Politik, Religion, ja womöglich bis zur Alphabetisierungsquote und dem Anteil von Datteln oder elektroporösen Kugellagern am Export. Das ist interessant – aber manchmal auch sehr ermüdend, vor allem, wenn man vielleicht aufgrund mangelnden Lesestoffes eigentlich das ganze Lexikon lesen möchte und nicht nur einzelne Artikel zur gezielten Information.
Doktor Oldales geographische Lexikon ist da anders. So erfahren wir unter dem Stichwort „Antarktika“, dass Pinguineier nach dem Kochen ein leuchtendes Orangerot beim Eigelb aufweisen und wenig appetitlichen graublaunen Glibber beim Eiweiss, der Aufenthalt überdurchschnittlich oft mit psychischen Erkrankuneg bezahlt wird und in New York 15-mal mehr mehr Schnee fällt als am Südpol. Begonien scheinen in Nordkorea neben Atomwaffen hoch im Kurs zu stehen und wurden sogar so gezüchtet, dass eine Sorte direkt am Geburtstag des vorigen, „Lieben Führers“ Kim Jong Il blühte. Maureatinen wiest die höchste Sklavenquote (20%) aller Länder auf, während Schweizer Offiziere bei Rangaufstiegen nicht mit Sternen, sondern mit Edelweiß dekoriert werden und der Tschad mit der Bodélésenke den staubisten Ort der Welt aufweist.
In Turkmenistan waren über lange Jahre auf Betreiben des 2005 verstorbenen Diktators Niyavoz Playbackgesang, Büchereien, Zirkusse, Make-up für Nachrichtensprechereinnen und Goldzähne verboten, während man zur Führerscheinprüfung ei 16stündiges Studium von Ruhnama, einer weitschweifigen Gedankensammlung des Diktarors, absolvieren musste.
In den Vereinigten Staaten dagegegen gab es 1994 den kuriosnen Auftrag der US-Luftwaffe, eine „schwule Bombe“ zu entwickeln, die Soldaten verfeindeter Truppen füreinander unwiderstehlich machen sollte. Das wundert einen nicht, wenn man weiß, dass man als Vater in Missouri noch vor gericht gehen kann, um sein „Eigentümerinteresse an der Keuschheit seiner Tochter“ durchzusetzen und die Fläche aller Parkplätze der USA so groß wäre wie El Salvador, die aller Strassen dazu so groß wie England und Wales. Indien zeichnet sich dagegen durch die ersten Mathematikeraus, die über die Unendlichkeit sprachen, verfügt mit den Jainiten über eine gewaltlose Religion, die nie nach Sonnenuntergang isst, damit die Motten nicht vom Herdfeuer angezogen werden und beeindruckt mit 6,7 Milliarden Eisenbahnfahrgästen pro Jahr.
Deutschland selbst ist durchaus exotisch zu betrachten, führt man das „Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz“ als vermutlich längstes bürokratisches Wort der Welt an, während der Untergang von U-1206 1945 wegen Toilettenbenutzung des Kapitäns eher als absurd und 1750 verschiedene Wurstsorten vielleicht gar als „eine zuviel?“ beschrieben werden könnten.
Meerschweinchen als Grundnahrungsmittel der Inka, verschleierte Männer bei den Tuareg und die höchste Sterberate durch elektrische Rasenmäher in Moldawien, ein malawisches Gesetz gegen Furzen in der Öffentlichkeit und ein offizieller Forschungsbericht der Uni Ottawa über die beste Verteidigungsstrategie gegen Zombies („Oft und hart zuschlagen“) – man muss sich wundern, welche exotischen, unerwarteten Fakten Oldale aus seinen Quellen (15000 Einzelnachweise erwähnt er im Quellenanhang) zutage fördert.
Oldales lexikalisches Sammelsurium vereint kuriose, verblüffende und zum Teil absurde Informationen über alle Länder der welt und bietet so einen humorvollen, unerwarteten und erfrischenden Blick auf Länder und Regionen. Auch wenn die Kürze der Informationen als ergänzende Reiseinformation vielleicht nicht geeignet ist, gibt sie doch einen etwas anderen Blick auf die Länder dieser Welt und stellt auch eine humorvolle Brechung allzu nationalistischer Beweihräucherung dar. Die Informationen, die er vermittelt, könnte im landläufigen Sinn durchaus als überflüssig bezeichnet werden, besitzten aber einen ganz eigenen Reiz, rücken sie doch die Spezies Mensch und ihre jeweils national unterschiedlichen Ausprägungen, Lebenstile und Merkwürdigkeiten in ein besonderes, ausgesprochen unterhaltsam aufbereitetes und bebildertes lexikalisches Licht.
Ein kurzweiliges Buch, bereichernd mit unerwarteten Fakten, die sich durchaus bereichernd auf alltägliche Konversationen auswirken können, den Blick für andere Länder weitet, das eigene Land zu relativieren hilft und die Lektüre oder das gezielte Studium lohnen. Sollte eines Tages mit dem Untergang der Menschheit nur noch dieses Buch in irgendeiner Bibliothek übrigbleiben und als einzige Wissensquelle für Ausserirdische zur Verfügung stehen, könnte es diesen zwar keinen umfassenden wissenschaftlichen Überblick über die dominierende Spezies dieses Planeten liefern – treffend wäre es aber trotzdem und beschriebe hinlänglich genug die Eigenschaften und Ausformungen regionaler menschlicher Gesellschaften.

9 Kommentare zu “Doktor Oldales geographisches Lexikon / John Oldale

  1. Das liegt seit Monaten auf meinem Nachttisch, als Trostpflaster für leichtes bis mittleres Unwohlgefühl. Nach einer Doppelseite sind Albträume und Horrorfilme meistens vergessen =) Aber ich will wirklich hoffen, dass der Tag, an dem nur noch EIN Buch in den Bibliotheken liegen bleibt, nicht kommt oder wenigstens noch weit, weit weg ist!

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    • Das ist das Schöne an solchen Büchern. Man kann sie von vorne nach hinten weglesen – oder abendlich vor dem Einschlafen oder bei unverhofftem nächtlichen Aufwachen mit anschliessenden Eischlafschwierigkeiten lesen. Und der beschriebene, befürchtete Tag kommt bestimmt, bestimmt NIE (schrieb er hoffnungsvoll trotzig).

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  2. Lieber Jarg,
    ganz herzlichen Dank für diesen Hinweis. Ich sammele nämlich Lexika und speziell ungewöhnliche Lexika. Das lasse ich mir gleich schicken.
    Habe ein feines Wochenende
    Klausbernd und seine munteren Buchfeen Siri und Selma

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    • Lieber Klausbernd,
      dann wird Dir dieses kuriose Lexikon bestimmt gefallen. Oldale selber muss ein rechter Weltenbummler sein, soll er doch schon über 90 Länder bereist haben. Bei so viel Reiseerfahrung bekommt man mit Sicherheit einen Blick für das Absurde und Kuriose im Exotischen oder auch scheinbar Normalen
      Einen guten Wochenstart Dir und den freundlichen Buchfeen Siri und Selma!
      Jarg

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      • Lieber Jarg,
        ja, prima, es hört sich wie DAS Buch für mich und meine Buchfeen an.
        Hast du in Hamburg auch solch einen wilden Sturm? Bei eitel Sonnenschein stürmt es hier, dass mein Haus wackelt, ächzt und krächzt, es mutiert zum Geisterhaus.
        Eine rundum schöne Woche wünschen dir
        Dina und Klausbernd, Siri und Selma

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      • Lieber Klausbernd,
        ja, hier wehte es gestern bei strahlendem Sonnenschein auch tüchtig – und heute setzte sich dasverstärkt und mit Regen fort, so dass es mir fast den Schirm aus der Hand riss. Aber die Luft duftet wunderbar und schwer nach Frühlingsregen, Wachstum, Grün …
        Liebe Grüsse an Dich, Dina und die Buchfeen von
        Jarg

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  3. In etwa so habe ich mir immer den Geografieunterricht gewünscht: Wirkliche Länderkunde über das Leben, die Menschen und Tiere dort, anstelle des Lernes von Bodenschätzen und Industriestandorten…
    Daher werde ich sicher einmal in „Doktor Oldales geographisches Lexikon“ reinschauen. Danke für die wunderbare und so detaillierte Rezension!

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    • Gern geschehen und danke für die Komplimente!
      Der Blick auf komische und absurde Ländereigenschaften relativiert jedenfalls die nationalen Überheblichkeiten enorm – und führt die Menschen in aller Unterschiedlichkeit zueinander im Absurden! Das allein macht dieses Buch so wunderbar zum Stöbern – und man würde es jedem Außerirdischen gerne als den etwas anderen Reiseführer zum Planeten Erde in die Hand drücken … 😉

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