Als Mensch ist man geneigt, die Zeit, in der man lebt, als ungeheuer innovativ zu bezeichnen und zu erleben. Das war vor knapp zwanzig Jahren mit dem Internet so und das ist seit ein paar Jahren mit den Smartphones, den iPads, den Navigationsgeräten und anderen technischen Neuerungen so: der Mensch strebt stets nach neuem und kann sich die Zeit vor 100 Jahren nur als sehr düster und rückständig vorstellen. Natürlich neigt er auch dazu, die modernen Errungenschaften weitgehend kritiklos zu benutzen und auch mögliche Gefährungen auszublenden.
Nur: von hundert oder hundertfünfzig Jahren ging es den Menschen ebenso wie uns heute. Auch siehen stürzten sich begierig auf neue Errungenschaften, die bejubelt und gefeiert und teilweise exzessiv in alle Lebensbereiche ausstrahlten und Anwendungen fanden, wo eine Anwendung aus heutiger Sicht unsinnig, gar schädlich erscheint. Auch sie waren bereit, horrend hohe Preise für neue, als revolutionär erscheinende Produkte zu bezahlen, deren Nutzen in der Rückschau in keinem Verhältnis zu den Kosten zu stehen scheint.
Alles schon mal dagewesen? Ja, in gewisser Weise schon. Frank Patalong führt uns durch eine Reise in die Vergangenheit und amcht an einigen technischen und wissenschaftlichen Entdeckungen und Entwicklungen klar, dass das Wort „Hype“ keinesfalls nur eines ist, das Phänomene der Gegenwart bezeichnet, sondern auch für vergangene Zeiten gut Anwednung finden kann.
In „Unter Strom“ zeigt uns Patalog Beispiele aus der Entwicklung der Elektrizität von der kuriosen Freizeitbespaßung über ernsthafte Anwendung wie das Licht bis hin zu zum Teil wirksamen, zum Teil hanebüchenen Anwendungen im Bereich der Medizin und zum Teil noch heute praktizierte obskure Praktiken in Sekten oder im Bereich der Esoterik. So wird ja heute noch gerne mit Magneten herumgewedelt zur Bewußtwerdung bizarrer „kosmischer Energien“ oder Wasser „aufgeladen“ mit der Behasuptung, es wirke danach lebensverlängert. Das man Babywachstum Erdung in Form geerdeter, an Metallbändern aufgehängter Wiegen fördern wollte, könnte ebenfalls einem modernen Esoteriker eingefallen sein und war damals so getrsig wie heute.
Trotzdem setze sich die Verwendung von Elektrizität durch und beschränkte sich bald, nach einigen Jahrzehnten bizarrer Spiereien, auf die nützlichen und notwenigen Bereiche. Der elektrische Kuss ist zum Glück Technikgeschichte.
Die Telekommunikation und ihre zum Teil bizarre Entwicklung findet Niederschlag im Kapitel „Kommunikation und Musik“, das sich intensiv mit der Aufzeichnung und Weiterleitung von Tönen beschäftigt. „Öh, hier“ war in der Vergangenheit durchaus zumindest bei technikaffinen Militärs ein akustisch gebräuchliches Signal, um das eigentlich Gespräch zu starten. Unser heutiges „Ich bin schon in der Bahn“ mutet da nicht viel moderner an.
Spannend ist natürlich auch hier die Frage nach dem eigentlichen Erfinder des Telefons und dem zwischen Edison und Bell heiss umkämpften US-Markt.
Das iTunes als Idee doch nicht so revolutionär ist, zeigen die ersten erfolgreichen Versuche und kommerziellen Angebote, die bereits in den 1880er Jahren kamen: nicht nur, dass Konzerte telefonisch übertragen und zujm Teil sogar beim Empfänger in Stereo wiedergegeben wurden. Es gab auch Salons zum telefonischen Musikhören und Music on demand per Münzeinwurf mit der Pariser Theatrofon-Box.
„Mobilität“ darf natürlich nicht fehlen in diesem Buch. So widmet sich Patalong auch ausgiebig dem Auto, erinnert daran, dass es die ersten Autos im Wortsinne sehr viel früher gab (als Dampfautos) und diese zum Teil große Verbreitung fanden als Lastwagen und Kutschenersatz. Natürlich hatten Automobile auch mit Widerstand zu kämpfen, galten sie doch als Arbeitsvernichter. In manchen Ländern führten kuriose Gesetze zur drastischen Senkung der eh noch nicht besonders hohen Geschwindigkeiten und durch Voranlaufen eines vor dem Auto warnenden Menschen zur Verschlechterung der Wirtschaftlichkeit. Das E-Auto, ja selbst der heute so viel bestaunte Hybridantrieb waren zu beginn, nach der Ära der Dampfmobile, durchaus erfolgreicher als der Benzinmotor, der sich später durchsetzte. Kuriositäten wie das achträdrige Octoauto oder den ersten Verkehrsunfall der Geschichte dürfen natürlich nicht vergessen werden.
In „Maschinen und Gesundheit“ befasst sich Patalong mit einigen Aspekten der Maschinentechnik, die besonders kurios anmuten und zum Teil nicht nur zu bizzaren Entwicklungen führetn, sondern auch zu Gesundheitsgefährungen. Die Geschichte über die titelgebende Entwicklung des Vibrators als Anti-Hysterie-Maschine zur Entlastung massagegeplagter Ärzte und sein für tausenderlei Leiden angepriesener Einsatz lohnt dabeio allein die Lektüre, stand das Gerät doch seltamerweise so gar nicht im Widerspruch zur Prüferie der Zeit, obwohl bei den Sittenwächtern alle Alarmglocken hätten klingeln müssen. Wundersam muten auch die Angebote zur Galvanisierung von Leichen an und die äußerst lukrative Vermaprktung der Elektrizität in Form von Stromduschen, elektrischen Bädern und Gemeinschafts-Inhalatoren von zweifelhafter hygienischer Qualität zur Bekämpfung von Erkältungen. Für Heimwerker gab es Bauanleitungen für den Umbau eines Föns zum Staubsauger, die aber nicht so nachhaligen Effekt hatten wie die durch die Elektrostimulation Duchennes letztlich beförderten Anfänge der Neurologie.
Vollend düster wird es bei der „Sache mit den Strahlen“. Bis in die 1970er Jahre war es beispielsweise üblich, Kinderschuhe samt darin steckendem Fuss mit Roentgenstrahlen auszumessen – sogar Bartentfernung per Roentgenstrahl war im frühen 20. Jahrhundert in etwa so beliebt wie heute die indische Kopfmassage um die Ecke. Ganze Theater wurden gemietet, um den Menschen gegen Geld die wundervollen Eigenschaften der alles durchleuchtenden Strahlen zu demonstrieren, in dem man seine eigene Hand durchleuchten lassen konnte – mit einem 1000fachen der heute üblichen Strahlung. Es kam, wie es kommen musste: Menschen wurden krank, schwer krank. Und doch dauerte es noch lange, bis Roentgenstrahlen vorsichtiger eingesetzt wurden.
Gleiches gilt für den Einsatz radioaktiver Substanzen: ihre Entdeckung ruinierte nicht nur die Gesundheit vieler Forscher und Anwender, sondern führte zu einem unvergleichlich leichtsinnigen Umgang mit Radioaktivität. In den 1920er Jahren wurden massenhaft für ungeheue Summen Radonsalben verkauft, bis ein sehr bekannter Kunde unter grausamen Umständen an den Folgen der Anwendung starb, nicht ohne vorher große Teile seines Gesichts einzubüssen. Bis in die 1950er Jahre wurde Kinderspielzeug verkauft, dem auch vier radioaktive Elemente beigefügt waren: ein Experimentierkasten namens Gilbert U-238 Atomic Energy Lab regte an zur spielerische Auseinandersetzung mit strahlenden Elementen.
Patalong ist ein ebsno lehrreiches, amüsantes wie zum Teil erschreckendes Buch gelungen, dass uns mit einem Parforceritt durch die Errungenschaften alter Zeiten führt und dazu noch mit allerlei zeitgenössischen Grafiken, Fotos und alten Anzeigen illustriert ist, was nicht wenig zum Lektüregenuss beiträgt. Fragt sich nur, welchen Niederschlag die ach so modernen Errungenschaften unserer Zeit, auf die wir uns gerade so viel einbilden, in 100 Jahren finden werden. Es ist zu hoffen, dass dann ebenfalls jemand ein Buch schreibt, in dem unsere Naivität im Umgang mit unserem Wissen und unserer Technik ebenso pointiert auf den Punkt gebracht wird. Fest steht: das geschickte Vermarkten unnötiger Geräte und Behandlungen gab es damals wie heute. Gelernt haben wir daraus wenig.
Hey du,
ich lese deinen Blog gerade zum ersten Mal und mag ihn sehr!!!
Hier sind meine Gedanken zu Büchern und dem Bücherschreiben:
http://lasagnolove.blogspot.de/2013/06/you-get-to-decide-what-to-worship-ii.html
Fühl dich gegrüßt,
Bambi
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Hallo Bambi,
danke für die überaus freundlichen Worte. Und danke für den Hinweis auf Deinen interessanten Blog.
Herzlich grüsst
Jarg
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Hallo Jarg,
vielen Dank für die schöne Besprechung. Am Ende schreibst Du:
„Es ist zu hoffen, dass dann ebenfalls jemand ein Buch schreibt, in dem unsere Naivität im Umgang mit unserem Wissen und unserer Technik ebenso pointiert auf den Punkt gebracht wird. Fest steht: das geschickte Vermarkten unnötiger Geräte und Behandlungen gab es damals wie heute. Gelernt haben wir daraus wenig.“
Dem ist leider nichts hinzuzufügen, ausser vielleicht, um das doch noch ins positive zu wenden (schwer), dass die immer noch und immer wieder vorhandene Neugier doch auch immer wieder nützliche, hilfreiche und lebenserleichternde und bereichernde Dinge und vor allem Erkenntnisse hervorbringt. Immerhin, seit geraumer Zeit wissen wir, dass die Erde gar keine Scheibe ist…
Liebe Grüsse, Kai
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Hallo Kai,
Ja klar, da hast Du natürlich absolut recht: nützliche Dinge gibt es zum Glück viele und den Fortschritt sollte man auch gar nicht zurückdrehen, hat er unser Leben doch sehr erleichert und verlängert. Schliesslich möchte ich mein Smartphone seit drei Wochen nicht mehr missen, obwohl ich mich lange gesträubt haben, mein Wählscheibenhandy aufzugeben 😉
Was ich halt interessant finde, dass wir heute wie damals moderne Errungenschaften magisch aufladen … ich bin gespannt, wie man unsere Zeit einmal betrachten wird – etwa die fetischhafte Überhöhung des Autos.
Liebe Grüsse von Kai
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