Sie ist 39 Jahre alt, hat sich als Managerin in Sanierungsfällen längst einen Namen gemacht und ist Geschäftsführerin eines mittelständischen Betriebes. Da bekommt sie unvermittelt die Kündigung und wenig später stirbt ein alter Bekannter im Alter von 46 jAHREN nach kurzer, schwerer Krankheit. Da hat die komplett unsportliche Christine Thürmer, die Wandern als Kind nicht gerade besonders liebte, schon beschlossen, sich eine Auszeit zu können und den 4277 Kilometer langen Pacific Crest Trail (PCT) von Mexiko bis Kanada durchzulaufen. In einem Stück, versteht sich. Der PCT ist einer der drei großen, von Süden bis nach Kanada führenden Wanderwege Amerikas und wird jährlich von hunderten sogenannten Thruhikern begangen – von denen maximal ein Drittel die Strecke auch erfolgreich bewältigt.
Komplett unerfahren, bereitet sie sich auf den Wanderweg ähnlich akribisch vor wie auf eine harte Unternehmenssanierung und versucht, sich alles Wissen anzueignen, dass sie für den Weg braucht. Von April 2004 bis September 2004ist sie dann meist allein unterwegs mit einem Tagesschnitt von 33 Kilometern und wenigen Ruhetagen. Trotz aller Selbstzweifel schafft sie es tatsächlich bis nach Kanada auf diesem Weg, dessen in der Regel einander auf besondere Weise solidarische, eine besondere temporäre Gemeinschaft bildende Wanderer von zahllosen Trail Angels entlang der Strecke unterstützt werden. Thürmer geniesst diese besondere Atmosphäre, schliesst Bekanntschaften, Freundschaften und entdeckt nicht nur die besondere Freude am Langstreckenwandern, sondern auch ein elementares Glück des Wenigen, das sich aus der notwendigen Reduktion auf das Nötigste beschränkt und so selbst kleine Momente und Gesten mit großem Glückspotential ausstattet: da kann ein unverhofft bei schmalem Proviant geschenkter Schokoriegel Euphorie auslösen und die unverhoffte Mitfahrgelegenheit zur nächstgelegenen Einkaufsmöglichkeit tiefes Glück.
Danach hat sich etwas in Thürmers Leben verändert. Sie übernimmt zwar erneut die Geschäftsführung eines sanierungsbedürftigen Unternehmens – aber nur unter der Bedingung, 2007 wieder eine mehrmonatige Auszeit zum wandern nehmen zu können. Ihr Ziel diesmal: der 4900 Kilometer lange Continental Divide Trail von New Mexico bis Kanada. Eine Wanderung, die für sie zur Prüfung wird aufgrund der besonderen Härte der Strecke – und aufgrund ihres Mitwanderers, mit dem sie über etliche Monate eine anstrengende Beziehung verbindet, aus der sie erst am Ende herausfindet. Trotzdem stellt sich auch hier das Wanderglück ein, überwiegt die Freude am einfachen Leben, an der Reduktion, der Begegnung und dem Unterwegssein. So ist die unverhoffte Kündigungsnachricht aus Deutschland für sie keine Überraschung mehr, sondern eher eine frohe Botschaft.
Schnell steht für Thürmer fest, dass sie ihr bisheriges Leben gegen alle Widerstände und Skepsis aus Familie und Freundeskreis aufgeben wird: sie kündigt ihre Wohnung, bringt ihre wenigen Habseligkeiten in 18 Umzugskartons in einem Self Storage Abteil unter und nimmt den 2500 Kilometer langen Appalachian Trail in Angriff: eine Wanderung, die sie erneut an die Grenze der physischen und psychischen Belastung führt, ihr aber gleichzeitig wertvolle Erkenntnisse über ihr künftiges Leben liefert: War sie bisher gehetzt, Strecke zu machen, um wieder in ein ’normales Leben“ zurückzukehren, so hat sie jetzt ihre eigene Zeitmessung und kann ihr eigenes Tempo finden. Gekrönt mit dem Triple Crown Award für alle drei großen Wege, geht Thürmer weiter auf ihrem Weg und läuft, radelt, paddelt und wandert seither über viele Tausend einfach weiter in dem guten Gefühl, von ihren Rücklagen trotzdem gut leben zu können, hat sie doch am eigenen Leib erfahren, wie wenig es tatsächlich braucht für die tiefen Glücksgefühle.
Christine Thürmer alias „German Tourist“ ist ein beeindruckender Reisebericht gelungen, der sich ganz auf das Leben unterwegs fokussiert und nicht nur den inneren Erkenntnisprozess sichtbar werden lässt, sondern auch plastisch, humorvoll und mit Selbstironie die eigenen Erlebnisse beschreibt. Nachvollziehbar beschreibt sie ihren Weg von der erfolgreichen Geschäftsfrau zu einem so völlig anderen, einfacheren Leben – einem, dass sie sich eigentlich nie hätte vorstellen können und auf das sie ein wenig auch der Zufall geführt hat.
So ist dieses Debüt ein packendes Stück Reiseliteratur geworden, das man kaum aus der Hand zu legen vermag und einem als männlichem Leser auch so einige Spiegel vorhält: zum einen, was es heisst, als Frau allein zu reisen. Zum anderen aber, dass wir Männer gerade auf Langstrecken Frauen mental unterlegen sein dürften, weil uns ständig der Wettbewerb treibt: Hut ab vor dieser Frau! Für mich eines der schönsten, beeindruckensten Reisebücher der letzten Zeit, das zu Recht zum Bestseller geworden ist.
Im Ausnahmefall kann so etwas funktionieren. Mit einem kompletten Film-Team dabei. Die Realität sieht im Normalfall aber doch etwas anders aus. Fazit: ‚Vom Tellerwäscher zum Millionär‘ ist genauso realistisch.
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Also ich könnte mich auch mit Zelt und dreimal täglich Hafersüppchen durchaus ein paar Jahre wohlfühlen. Ist auf jeden Fall die bessere Alternative als Milionär …
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Hallöchen,
mir hat das Buch auch sehr gut gefallen. Kaum zu glauben, wieviele Meilen die gute Frau hinter sich gebracht hat! Echt beeindruckend. 🙂
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Ja, unbedingt. Und sie zeigt, wie wenig man eigentlich braucht zum glücklichen Leben …!
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