Es gibt Filme, die so tief reichen, dass man einige Tage braucht, um ihre Nachwirkung in Worte fassen zu können. „Toni Erdmann“, der für den Oscar in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ nominierte Film von Maren Ade, zählt zu diesen Filmen, die ihre Vielschichtigkeit erst in der Rückschau in Gänze entfalten.
Winfried Conradi ist ein pensionierter, einst in den 1960er Jahren studentenbewegter Musiklehrer, der allein mit seinem Hund lebt, einen schrägen Humor und ein großes Herz besitzt. Er lebt in einem mit Erinnerungen vollgestopften Haus, ein wenig weltfremd und in der Routine seines Alltags gefangen. Seine als Unternehmensberaterin erfolgreiche und derzeit von ihrer Firma „Morrison“ in Rumänien eingesetzte Tochter Ines sieht er selten und die Entfremdung zwischen den beiden ist auf einem Familientreffen deutlich spürbar: Ines, vollkommen unpolitisch, ist permament mit ihrer Selbstoptimierung beschäftigt und der möglichst perfekten Performance, wenn sie – wie in Rumänien – Menschen als Humankapital outsourcen soll. Entsprechend distanziert begegnet die komplett in der auf Effizienz und inhumanem Ressourcendenken ausgelegten Firmenkultur der Unternehmensberatung aufgehende Tochter ihrem empfindsamen Vater.
Als der Hund stirbt, beschliesst Winfried, seine Tochter in Bukarest zu besuchen. Ines nimmt ihn mit auf einen Empfang, bei dem auch ihr Auftraggeber Henneberg anwesend ist, für den sie eine Wartungsabteilung kostengünstiger organisieren soll. Ines ist fassungslos, dass Henneberg den skurillen Humor von Winfried offensichtlich schätzt und diesen in einen Club einlädt, in dem der Abend fortgesetzt werden soll. Nach wenigen Tagen kommt es zum Streit: Winfried kritisiert das an Leistung und Erfolg orientierte, für ihn von Oberflächlichkeit und Einsamkeit geprägte Leben seiner Tochter („Bist du noch ein Mensch?“), Ines wiederum kann seine Späße nicht mehr ertragen und regt sich auf, dass Winfried ihr Leben hinterfragt und daran zweifelt, dass sie überhaupt glücklich sei. Winfried beschliesst nach dem Streit, wieder abzureisen.
Zu Ines Erstaunen und Entsetzen taucht er aber am Abend mit langmähniger Perücke und falschen Zähnen in einem Restaurant auf, in dem sie sich mit Freundinnen trifft. Er stellt sich als Coach Toni Erdmann vor, behauptet, für Ines Chef zu arbeiten und Ion Tiriac zu kennen und beginnt eine launige Unterhaltung mit den beiden Frauen, der Ines mit wechselnden Gefühlen folgt. Toni Erdmann wird sich in den nächsten Tagen auf überaus anarchische und selbstbewusste Weise in Ines Leben und ihren Beruf einmischen. Ines ist gezwungen, auf ihn zu reagieren und beginnt sein nicht selten hochnotpeinliches Spiel mitzuspielen. Vater und Tochter kommen sich dabei unter ihren Masken unmerklich näher … und verbünden sich unbewusst, um die Ödnis der Managementkultur und der harten Arbeitsrealität in der rumänischen Provinz nach etwas zu durchsuchen, was ihnen verlorengegangen ist.
„Toni Erdmann“ ist weitaus mehr als ein Film über eine Entfremdung zwischen Vater und Tochter, über unterdrückte Aggressionen, enttäuschte Erwartungen und an der Endlichkeit des Lebens wurzelnde Traurigkeit, einer Entfremdung, die nur durch einen vom Vater erzwungenen Ausbruch aus den gewohnten Rollen durchbrochen wird. Zugleich gräbt der Film tief in den Mechanismen eines seelenlosen, vom reinen Effizienzgedanken gesteuerten Kapitalismus, in dem Menschen nur Material sind und Zahlen nur dazu da sind, bereits feststehende Entscheidungen scheinbar rational zu begründen. Ines, die leistungsorientierte Unternehmensberaterin, ist so tief in ihren Beruf verstrickt, dass sie gar nicht merkt, wie unglücklich sie eigentlich ist. Es braucht erst ihren Vater, der aus der Not heraus den Spieß umdreht und mit der Kraft der Fantasie und skurillem Humor in Ines Welt aufschlägt, um mit der absurden Maske des Toni Erdmann ihre Welt zugleich zu erobern und subversiv zu unterwandern.
Doch Toni Erdmanns aka Winfried Conradis Subversion, die die Entfremdung und Distanz zwischen Vater und Tochter aufbricht, reicht weiter: den der schräge Coach Erdmann bricht die kalte, oberflächliche Firmenkultur der Unternehmensberatung auf und führt die Protagonisten auf eigentümliche Weise zu sich selbst zurück. Damit reicht „Toni Erdmann“ weit über seine Vater-Tochter-Geschichte hinaus, entlarvt den Turbokapitalismus mit seiner Reduzierung des Menschlichen auf seine wirtschaftliche Verwertbarkeit und begegnet doch allen seinen Protagonisten trotz mancher Entblößung mit Respekt, rettet sie, in dem er ihnen das zeigt, was ihnen fehlt: Humor in Verbindung mit dem Wissen um die Vergänglichkeit und den Tod.
„Toni Erdmann“ ist ein zutiefst berührender Film, der einem mit seiner vortrefflichen Verbindung von absurdem Humor und menschlicher Tragik tief unter die Haut geht und lange nachwirkt.
Lieber Jarg,
das ist eine wiklich gute Besprechung dieses Films, die bei mir wohl den Kitschverdachtsvorbehalt erstmal ausgeräumt hat.
Nu will ich den Film auch sehen … ja und da frag ich die weltbeste aller Ehefrauen grade danach, ob es den Film schon als DVD gäbe – und Sie HAT IHN SCHON GEKAUFT.
Und natürlich, Deine Cover-Abbildung ist ja vermutlich bereits die Ausleih-DVD deiner ? Bibliothek. Jedenfalls, der Film wird unser Wochenende wahrscheinlich noch schöner machen.
Für Deine Besprechung herzlichen Dank, das ist ein richtiger Anstoß für mich
Liebe Grüße und noch ein schönes Restwochenende wünscht der
Kai
LikeGefällt 2 Personen
Lieber Kai,
ich hoffe, euch berührt der Film ebenso. Er wirkt bei mir immer noch nach und beeindruckt nachhaltig mit seiner Mischung aus absurder Komik und tiefer Melancholie. Kitschig ist da wirklich gar nichts … und der Film verfolgt sein Thema bis zur buchstäblichch letzten Minute sehr stringent.
Das Cover stammt allerdings diesmal nicht aus meiner Bibliothek (da war der Film ausgeliehen), sondern von Nachbarn, mit denen wir einen Filmempfehlungstausch gemacht haben: wir sahen TonibErdmann, die dafür „Sture Böcke“ (aus meiner Bib), der auch sehr beeindruckend, aber mit Toni Erdmann nicht zu vergleichen ist.
Ich wünsche euch einen feinen Filmabend und ein ebenso feines, vielleicht ein wenig von Toni Erdmann verwandeltes Wochenende und bin auf dein, euer Urteil gespannt!
Liebe Grüße von Jarg
LikeGefällt 1 Person
Lieber Jarg,
praktisch, diese Bibliothekare, ich sag ja immer 😀
Das mit dem Filmabend wird sich bei uns leider etwas verschieben müssen. Ich hatte Dienstag eine Zahn OP, die ein Riesenloch in meinem Mund hinterlassen hat. Die Blutung hat zwischenzeitlich gestoppt und da war ich dann zu unvorsichtig.
Na ja und mit all meinem anderen Gedöns werd ich wohl noch ein paar Tage in der Matratzengruft festsitzen 🛌
Irgendwann wird es klappen mit dem Toni Erdmann, da freu ich mich schon jetzt drauf – und dann werd ich hier berichten.
Dir und den Zwillingen wünsche ich noch ein wunderbares Restwochenende
Liebe Grüße
Kai
LikeLike
Lieber Kai,
auch dein „Toni-Erdmann-Moment“ wird kommen. Ich wünsche dir gute Besserung und einen schönen Restsonntag!
Liebe Grüße von Jarg, heute das erste Mal mit Sohn bei einer Demo. Und ja, Bibliothekate sind saupraktisch. Und Bibliothekar sein ist noch besser, weil man den unerhörten Luxus hat, an der Quelle zu sitzen
LikeGefällt 1 Person
Sehr schöne Besprechung zu einem tollen Film!
LikeGefällt 2 Personen
Danke schön und ein zauberhaftes Wochenende!
LikeGefällt 1 Person
Guten Morgen, Jarg, der Film liegt schon auf unserem Regal und wartet darauf, gesehen zu werden. Nach deinem Beitrag bin ich noch neugieriger geworden. Ich wollte ihn vor allem auch gemeinsam mit meinem Papa schauen.
Ein schönes WE für dich und deine Familie, Susanne
LikeLike
Liebe Susanne,
der Film ist wirklich außergewöhnlich, berührt tief und wirkt bei mir immer noch nach! Ich hoffe, dir und deinem Vater geht es ebenso …
Danke für die guten Wünsche.
Ein zauberhaftes Wochenende an der Spree wünscht dir
Jarg von der Elbe
LikeLike